"Anerkennung und Respekt": Mit Herz gegen soziale Kälte

"Anerkennung und Respekt": Mit Herz gegen soziale Kälte
Sie ist in den sozialen Randbezirken unterwegs, bei Teenagermüttern, Langzeitarbeitslosen und Flaschensammlern. Sie besucht Alkoholiker, geistig und körperlich behinderte und demente Menschen. Manchmal macht sie ihren Job in zugemüllten, verschimmelten Wohnungen, wo es nach Alkohol oder Katzenurin riecht. Renate Fischer, 48, arbeitet als rechtliche Betreuerin. Mit Herz und Verstand kümmert sie sich um die, die oft nicht mehr in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.
18.03.2011
Die Fragen stellte Dorrit Riege

Sie arbeiten ganz vorn an der sozialen Front. An nur einem Tag müssen Sie viele Eindrücke von Armut und Elend verarbeiten und manchmal sogar lebenswichtige Entscheidungen fällen. Wie halten sie diesen Alltag mit all seinen emotionalen Wechselbädern aus?

Fischer: Wir Betreuer haben es mit komplizierten Leben, oft auch mit erschütternden Lebensverhältnissen zu tun, aber ich bin keine Sozialarbeiterin. Ich muss zusehen, das ich mir am Tagesende sage: Ich hab alles was möglich war, getan, jetzt ist Feierabend. Aber ich komme auch oft an meine körperlichen und physischen Grenzen, dann brülle ich auch schon mal die Wand an oder gehe eine Stunde im Wald laufen, um den Kopf klar zu kriegen.

Wen betreuen Sie?

Fischer: Ein Drittel bekommt Hartz IV, also 359 Euro, ein weiteres bekommt Eingliederungshilfe für Behinderte in Einrichtungen, und das letzte Drittel erhält Sozialhilfe.

Wie sehen die Wohnungen ihrer Klienten aus?

Fischer: Einige sind total schön und aufgeräumt. Aber andere ... also, zur Grundausstattung eines rechtlichen Betreuers gehören etliche Paar Gummihandschuhe, um sich vor Dreck oder unhygienischen Dingen zu schützen.

Sie ziehen Handschuhe an, bevor sie da rein gehen?

Fischer: Manchmal schon, vor allem wenn ich Wohnungen betreten muss, die länger leer gestanden haben. In einigen haben die Leute seit Monaten keinen Müll rausgebracht und nur gesoffen, es liegen 200 Bierflaschen und die Reste vom Pizzaservice rum und alles schimmelt so vor sich hin ...

Wie laufen solche Hausbesuche ab? Beschreiben Sie bittemal die Situationen in die sie kommen.

Fischer: Manchmal riecht es in jeder Ecke nach Katzenurin, weil überall Katzen rumstreunen und sich vermehren. Geld für die Sterilisation ist nicht übrig. Aber diese Tiere werden geliebt wie Kinder! Da ist jemand zum Streicheln, zum Sprechen. Sie müssen sich das so vorstellen: Tiere sind oft die einzige Lebewesen, die die Einsamkeit vertreiben helfen. Einmal habe ich die Kosten für die Sterilisation der Mieze von Frau S. übernommen, dafür ging mein ganzes Honorar drauf.

"Frau Fischer, das ist doch das Einzige, was ich noch hab..."


Bringen Sie Verständnis für solche Situationen auf?

Fischer: Ich versuche es. Aber es fällt mit oft schwer, die Prioritäten zu verstehen. Wenn etwa die Kaufsüchtige schon Anfang des Monats ihr Geld ausgegeben hat und dann keinen Cent mehr für Lebensmittel hat, oder wenn der schwer hustende Mann sein Geld für zig Packungen Markenzigaretten ausgibt, aber keine 10 Euro für den Besuch beim Arzt ausgeben will ... mit der Begründung: Frau Fischer, das ist doch das Einzige, was ich noch hab ...

Was tun Sie mit denen?

Fischer: Ich sperre das Konto und bezahle erst einmal die Praxisgebühr. Alle vier Quartale. Oder ich kümmere ich mich darum, dass die Betroffene selbst kaum Bargeld in die Finger bekommt und installiere ambulante Hilfe, damit jemand mit ihr Essbares kauft.

Sie haben einen typischen Kümmerer-Job. Spielen da auch erzieherische Ambitionen mit?

Fischer: Nach dem Motto: Rauchen ist ungesund? Überhaupt nicht! Ich will niemanden ändern, das ist auch nicht mein Auftrag. Jeder kann so leben, wie er will, wenn er sich und andere nicht massiv gefährdet.

"Man ist nicht behindert, man wird von anderen behindert"

 

Sind diese Menschen allein nicht lebensfähig?

Fischer: Es heißt: Man ist nicht behindert, man wird von anderen behindert. Und: Jeder ist behindert. Diese Menschen sind nur nicht in der Lage in unserer Welt zu funktionieren, das ist aber nicht den Menschen zum Vorwurf zu machen, sondern unserer Welt.

Inwiefern?

Fischer: Sehen Sie sich mal die Anträge für einen Schwerbehinderten-Ausweis an, oder die 27 Seiten Grundantrag für eine Erwerbstminderungsrente. Es ist nicht der Fehler der Leute, die das nicht ausfüllen können. Die sind ja nicht dumm. Die Formulare sind dumm, ohne Sinn und Verstand entworfen.

Und sie finden da durch?

Fischer: Tatsache ist, unser Antragsystem ist total kompliziert. Mir hat erst gestern ein Richter beim Amtsgericht gesagt, dass er selbst die Hartz-IV-Bescheide nicht durchschaut, von den Anträgen ganz zu schweigen.

Haben Sie schon mal einen Fall abgelehnt, weil Alkohol oder Gewalt im Spiel waren?

Fischer: Nein. Auch diese Leute brauchen ja jemanden, der ihnen zum Beispiel beim Kampf mit den Behörden zur Seite steht. Andere Kollegen lehnen es ab, Sexualstraftäter rechtlich zu betreuen. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Gerade habe ich den Fall einer Kollegin übernommen. Die Betreute hatte gedroht, das Kind der Kollegin umzubringen, weil sie ihre Katze nicht behalten durfte.

Hatten Sie schon mal Angst - etwa vor männlicher Gewalt?

Fischer: Es kommt schon mal vor, dass ich den geordneten Rückzug antrete, weil eine aggressive Atmosphäre im Raum liegt. Ich kann mich ja auch außerhalb der Wohnung mit ihnen treffen.

14 Jahre arbeiten sie in diesem Job, vier Jahre davon in Vollzeit. Befürchten Sie nicht, auszubrennen?

Fischer: (Pause) Ja, das ist eine realistische Befürchtung. Aber ich habe mich entschieden, diese Menschen nicht allein zu lassen. Dazu kommt meine Empörung. Etwa über eine Behörde, die einer Hartz IV-Empfängerin einfach 200 Euro abzieht, aufgrund einer angeblichen Nebenkosten-Überbezahlung – ein Fehler, wie sich herausstellte.

"Ich komme an meine körperlich-psychischen Grenzen"

 

Aber wie lange halten Sie diese Empörung durch?

Fischer: Die Empörung halte ich lange durch, wie lange ich aber die tatsächliche Arbeit durchhalte, weiß ich nicht. Ich merke, dass ich an meine körperlich-psychischen Grenzen komme.

Der Lohn wird – wie in allen sozialen Berufen – gering sein...

Fischer: Ich kriege 44 Euro Stundensatz, inklusive Mehrwertsteuer. Unterm Strich ist das weniger als meine Auto-Werkstatt bekommt.

Wächst die Zahl der Betreuten? Wo sehen Sie die gesellschaftspolitische Dimension?

Fischer: In unserer Gesellschaft gibt es immer mehr Menschen, die langfristig keine Arbeit mehr bekommen. Die psychisch krank sind, und irgendwie auch stören. Sie kosten Steuergelder, treiben die Krankenkassenbeiträge in die Höhe und sind rein volkswirtschaftlich überflüssig. Am besten würde es sie gar nicht geben. Und doch hat jeder einzelne Hoffnung auf ein gutes Leben.

Vor kurzem ist "Herz IV" erschienen, ein Buch mit Erfahrungen aus ihrem Berufsalltag.

Fischer: Mit den Geschichten und Begegnungen in diesem Buch versuche ich, meinen Klienten das entgegenzubringen, was sie fast nötiger brauchen als Geld: Anerkennung und Respekt.

Woraus ist die Idee zu dem Buch entstanden?

Fischer: Ich wollte einen Einblick in die Welten dieser angeblich so nichtsnutzigen Leute zu geben und zeigen, dass ihr Leben oft unfassbar kompliziert ist, weil wir es ihnen nicht leicht machen. Und ich würde mich freuen, wenn die Leser für einen Moment die Blickrichtung wechseln - also nicht immer nur verständnislos auf diese Leute schauen, sondern sich mal vorstellen, wie sich die Welt anfühlt, wenn man alleine ist und nichts mehr auf die Reihe bekommt.

Das Buch heißt "Herz IV: Aus dem Alltag einer rechtlichen Betreuerin", ist im Verlag BALANCE buch + medien verlag, erschienen, hat 240 Seiten und kostet 14,95 Euro.


Dorrit Riege ist freie Journalistin in Hamburg.