"Es ist zu früh für normale Bürger, hierher zu kommen"

"Es ist zu früh für normale Bürger, hierher zu kommen"
Kein Benzin, kein Wasser, Eis, Schnee, wenig Essen und immer die Angst vor der radioaktiven Strahlung - die Menschen im Nordosten Japans stehen am Rand ihrer Existenz. Die Regierung hilft, aber die Hilfe braucht zu viel Zeit, um die Menschen zu erreichen. In der Stadt Sendai geben sich die Menschen große Mühe, mit der Not zu leben.
17.03.2011
Von Lars Nicolaysen

Vor dem Trinkwassertank stehen lange Reihen von Japanern mit Plastikkanistern und Körben mit leeren Flaschen. Es ist bitterkalt, eine Frau zieht sich eine Wolldecke über den Kopf. Plötzlich tritt ein Helfer an der Wasserausgabe vor die Menge und verbeugt sich: "Bitte entschuldigen Sie, aber der Tank ist leer. Bitte haben Sie etwas Geduld." Niemand murrt, geduldig bleiben die Menschen stehen. Die Japaner bewahren selbst in der Not Höflichkeit und Umgangsformen. Im Hintergrund läuft ein Fernseher mit Bildern der gefährlich beschädigten Reaktoren im nahen AKW Fukushima. Doch bis auf ein kleines Kind schaut niemand zu. Helfer tragen Decken und Kartons mit Lebensmitteln an dem Fernseher vorbei.

Es ist früh am Morgen. So wie hier in einer Notunterkunft im Rathaus der Stadt Tome nördlich von Sendai sind die Menschen vielerorts darum bemüht, die eisigen Temperaturen und die angespannte Versorgungslage zu überstehen. Die Kälte lässt selbst die Schläuche der Trinkwassertanks gefrieren. "Wir haben heute den letzten Ofen befeuert, damit haben wir jetzt kein Heizöl mehr", erzählt ein älterer Mann am Donnerstag einem japanischen Fernsehteam in einer Notunterkunft in Sendai.

Hygiene steht ganz oben auf der Liste

Auch an den wenigen noch offenen Tankstellen gehen die Vorräte aus. An der Innenseite der Fenster einer Schule in Sendai, hinter denen Flüchtlinge in Wolldecken gewickelt am Boden liegen, hat sich über Nacht Eis gebildet.

Besonders hart ist es für die vielen alten Menschen unter den Opfern. "Ich kann nicht gehen, mein ganzer Körper tut mir weh", klagt eine alte Frau. Sie wäre dankbar für ein bischen Reis. "Ich habe nicht gut geschlafen, obwohl ich mich in zwei, drei Decken gewickelt habe", erzählt ein alter Mann.

Viele Menschen stehen in den langen Reihen vor den Essensverteilstellen und versuchen sich, gegen den herabfallenden Schnee zu schützen. Hinzu kommt die hygienische Situation, wegen der kaputten Wasserleitungen sind die Toiletten verstopft. Kinder bekommen Durchfall. "Hygiene" steht ganz oben auf der Liste von Bewohnern eines Notlagers, die vom japanischen Fernsehsender NHK nach ihren dringendsten Wünschen gefragt wurden.

14 Senioren, die aus Angst vor radioaktiver Verstrahlung von einem Krankenhaus in der Katastrophenprovinz Fukushima in Notlager gebracht wurden, überlebten die Verlegung nicht, wie die örtlichen Behörden am Donnerstag mitteilten. Zwei starben noch auf dem Weg in ein Lager im Bus.

Die Lage ist schockierender, als das Fernsehen vermitteln kann

Unterdessen formen Kinder einer Oberschule in Sendai Reisbällchen für die Menschen in den Notunterkünften. "Wir wollen den Menschen helfen", sagt eine Schülerin. Die Katastrophe hat eine Welle an Hilfsbereitschaft entfacht. In den Notlagern teilen die Menschen die knappen Lebensmittelrationen miteinander. Japaner - wie auch im Land lebende Ausländer - tauschen sich in Internetforen darüber aus, wie sie die Menschen in den Unglücksregionen unterstützen können.

Doch dies ist nicht immer leicht. "Es ist zu früh für normale Bürger, hierher zu kommen", erzählt ein japanischer Motorradfahrer, der seinem Freund in der schwer zerstörten Stadt Kesennuma zur Hilfe eilte. "Die Gegend ist noch immer das reinste Chaos, wir können nichts tun".

Die Lage sei noch "viel schockierender, als es die Fernsehbilder vermitteln". Für Freiwillige gebe es keine Möglichkeit, zu übernachten, da alles in Trümmern liege. Hinzu kommen Verständigungsprobleme, selbst für Japaner wie ihn sei es schwierig, den Dialekt der Bewohner zu verstehen, erzählt der Japaner.

Hilfsgüter kommen nicht verlässlich an

Rund eine Woche nach dem Horrorbeben und dem Tsunami mangelt es noch immer an allem: "Wir brauchen Lebensmittel, Benzin, Medikamente", sagt ein freiwilliger Helfer einem japanischen Fernsehteam. In einem Notlager in einer Grundschule der nahe gelegenen Stadt Sendai sind die Menschen am Donnerstag seit dem Morgengrauen dabei, mit improvisierten Öfen, die mit Holzscheiten und Paletten aus Supermärkten befeuert werden, Wasser zu kochen.

Viele Hilfsgüter, die von Lebensmittelherstellern und anderen Unternehmen angeboten werden, sollen bislang noch nicht die Unglücksregion erreicht haben, heißt es in japanischen Medienberichten. Ein Grund seien Abstimmungsprobleme zwischen der Regierung und den betroffenen Regionen.

Hamsterkäufe belasten die Hilfslieferungen

Zudem sind wichtige Zufahrtstraßen aus dem Großraum Tokio in die Unglücksprovinz Miyagi beschädigt. Andere Gebiete sind überschwemmt, was den Transport mit Tankern erschwert. Hinzu kommt, dass die Ölversorgung durch eine Raffinerie in der Nachbarprovinz Chiba, bei der in Folge des Erdbebens ein schweres Feuer ausgebrochen war, gefolgt von mehreren Explosionen, unterbrochen ist.

Am Donnerstag forderte die Regierung in Tokio Ölunternehmen im Westen des Landes auf, die Produktion zu steigern, mehr Benzin und Leichtöl in die Region zu schicken sowie die Zahl an eingesetzten Tanker von 400 auf 700 aufzustocken. Zugleich rief ein Sprecher der Regierung die Bevölkerung im Raum Tokio inständig auf, von Panikkäufen, die es schon gab, unbedingt abzusehen. Die Lebensmittel würden dringend in den Katastrophengebieten benötigt.

dpa