Hunderte Tote nach Erdbeben in Japan - Kernschmelze droht

Hunderte Tote nach Erdbeben in Japan - Kernschmelze droht
Ein katastrophales Erdbeben mit Tsunami hat in Japan wohl über 1.000 Menschen in den Tod gerissen und einen gefährlichen Atomunfall ausgelöst. Nach dem schwersten Erdbeben in der Geschichte des Landes rief die Regierung den Atomalarm aus. Experten und Politiker sprachen von der Möglichkeit einer drohenden Kernschmelze. Im Kontrollraum des japanischen Atomkraftwerks Fukushima 1 stieg die Radioaktivität am Samstagmorgen (Ortszeit) auf das 1.000-fache des normalen Werts.

Zuvor hatte eine Riesenwellen an der Küste Lastwagen, Gebäude und Bewohner weggespült. In vielen Ländern rund um den Pazifik brachten sich Menschen aus Angst vor dem Tsunami in Sicherheit. Das Beben hatte eine Stärke von 8,9. Das Ausmaß der Katastrophe wurde nach und nach sichtbar: Die Zahl der Toten steige wahrscheinlich über 1.000, meldete die Nachrichtenagentur Kyodo in der Nacht zu Samstag. Allein in der nordöstlichen Hafenstadt Sendai wurden 200 bis 300 Leichen gezählt, wie Kyodo unter Berufung auf die Polizei berichtete. Immer wieder erschütterten Dutzende Nachbeben das Land.

Das Desaster nahm am Freitag gegen 14.45 Uhr Ortszeit (6.45 Uhr MEZ) seinen Lauf, als der Boden gewaltig bebte. Das Zentrum der Erschütterung lag 24,4 Kilometer unter dem Meeresboden, 130 Kilometer östlich der Stadt Sendai und knapp 400 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Tokio. An der Ostküste der japanischen Hauptinsel Honshu fielen Gebäude wie Kartenhäuser zusammen, eine Wasserwand riss Autos, Häuser und Menschen mit, Fabriken explodierten. Ein Passagierzug wurde an der Küste vermisst, berichtete die Agentur Kyodo. Wie viele Menschen in dem Zug waren, war nicht bekannt.

Angst vor Kernschmelze

Weltweit herrschte große Sorge, dass sich die Lage im Atomkraftwerk Fukushima dramatisch zuspitzen könnte. Dort gab es gefährliche Probleme mit dem Kühlwasser. Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) sagte, dass "äußerstenfalls eine Kernschmelze" drohe. Dies könne bis zu drei Blöcke des AKW betreffen. "Das ist eine ernste Situation", erläuterte Röttgen am Freitagabend in Bonn. Die japanische Regierung tue alles, um die ausgefallene Notstromversorgung für das Kühlsystem wieder in Betrieb zu bekommen. Für Deutschland bestehe selbst im Fall einer Kernschmelze keine Gefahr.

Die Agentur Kyodo berichtete unter Berufung auf die nationale Atomsicherheitsbehörde, es könne sein, dass Radioaktivität auch aus der Anlage ausgetreten sei. Premierminister Naoto Kan weitete den
Evakuierungsbereich aus. Er forderte die Menschen in einem Radius von zehn Kilometern um das Kraftwerk auf, sich in Sicherheit zu bringen.

USA bringen Kühlmittel auf den Weg

Die USA schickten Reaktorkühlmittel nach Japan. Außenministerin Hillary Clinton sagte, die US-Luftwaffe habe aufbereitetes Kühlwasser zu der Krisenanlage transportiert. Der US-Reaktorexperte Robert Alvarez sprach von einem "beängstigenden Rennen gegen die Zeit". Rund 3.000 Anwohner des Reaktors Fukushima waren nach den Erdstößen in Sicherheit gebracht worden. Erstmals in der Geschichte Japans gab es damit Evakuierungen wegen eines Atomalarms. In einem etwas größeren Gebiet in bis zu zehn Kilometern Entfernung sollten die Bewohner in ihren Häusern bleiben, berichtete der Rundfunksender NHK.

Unklar war, wie die Situation im Kraftwerk in der Nacht zu Samstag (Ortszeit) wirklich war. Es gab Meldungen, dass sie sich stabilisierte. Die Nachrichtenagentur Kyodo berichtete jedoch, dass in dem Atomkraftwerk der Druck und die Radioaktivität in einem Turbinengebäude des Reaktors Nummer 1 gestiegen seien. Als Krisenmaßnahme sollte möglicherweise Luft nach außen abgelassen werden. Ein Feuer in einem Turbinengebäude eines anderen Atomkraftwerks, des AKW Onagawa, wurde nach einigen Stunden gelöscht. Die Betreibergesellschaft erklärte, dass keine radioaktive Strahlung ausgetreten sei.

"Menschen warfen sich zu Boden"

Der deutsche Unternehmensberater Serkan Toto erlebte das schwere Erdbeben in Japan am Flughafen Tokio-Narita. "Alle Menschen um mich warfen sich auf den Boden, manche suchten unter Tischen Schutz", schrieb er am Freitag in einer E-Mail an die Deutsche Presse-Agentur. In Sendai und Umgebung - der besonders betroffenen Region in der Präfektur Miyagi - überflutete eine zehn Meter hohe Welle sämtliche Küstengebiete, den Hafen ebenso wie zahlreiche Fischerdörfer. Die Behörden riefen die Bewohner auf, sich in höher gelegene Gebiete oder in obere Stockwerke zu retten. Lastwagen, Gebäude und Menschen wurden von dem Tsunami verschlungen.

In Sendai leben etwa eine Million Menschen. Flüsse traten über die Ufer. Nach Polizeiangaben wurde ein Schiff mit rund 100 Menschen an Bord fortgespült. Das japanische Innenministerium teilte nach Angaben des Senders NHK mit, in Städten und Präfekturen seien etwa 100 Brände gemeldet worden. Fernsehbilder aus der Provinz Iwate zeigten ganze Straßenzüge mit eingestürzten Häusern.

In Tokio waren die Telefonnetze stundenlang überlastet, Menschen konnten ihre Angehörigen nicht erreichen. Mehr als vier Millionen Haushalte waren ohne Strom. Die U-Bahn wurde vorübergehend geschlossen genauso wie Flughäfen in der Region. Betroffen vom Ausfall war auch der Schnellzug Shinkansen. Auf den Straßen bildeten sich lange Staus, an den Bahnhöfen strandeten massenweise Pendler. Viele Menschen trugen Helme aus Angst vor herabstürzenden Gegenständen. Mehrere Nachbeben erschreckten die Bewohner.

Internationale Hilfe angeboten

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die EU und US-Präsident Barack Obama boten Japan rasche Hilfe an. Japan bat die USA um Einsatz der im Land stationierten US-Streitkräfte. Im Nordosten Japans leben etwa 100 Bundesbürger, erläutere Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Hinweise auf deutsche Opfer gab es bisher nicht. Das Beben löste auch an den Börsen Schockwellen aus. Japan ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die Auswirkungen der Katastrophe waren von New York bis Frankfurt zu spüren.

Rund um den Pazifik wurden in etwa 50 Ländern zeitweise Tsunami-Warnungen ausgelöst. Das Pazifische Tsunami-Zentrum in Los Angeles warnte die Bewohner der gesamten Pazifikküste von Alaska bis Chile vor einer drohenden Flutwelle. Auf Taiwan und den Philippinen blieb der befürchtete Tsunami aber aus. Auch für Indonesien und Russland war Tsunamialarm ausgerufen worden. An der US-Westküste gab es zunächst keine größeren Schäden. Einige Länder hoben ihre Warnungen bereits wieder auf.

Das Beben ist nach Einschätzung von Forschern mit dem Tsunami im Dezember 2004 in Südostasien vergleichbar. Es sei zwar nicht ganz so groß, aber von ähnlichen Ausmaßen, sagte der Seismologe Michael Weber vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. Über Monate hinweg kann es auch noch schwere Nachbeben mit Stärken bis zu 8 geben. In Japan bebt immer wieder die Erde. Die bisher verheerendste Katastrophe erlebte das Inselreich 1923, als ein Beben der Stärke 7,9 Tokio und weite Teile Yokohamas zerstörte. Mehr als 143 000 Menschen kamen damals ums Leben.

dpa