"Wir brauchen Offenheit gegenüber Flüchtlingen"

"Wir brauchen Offenheit gegenüber Flüchtlingen"
Tausende von Tunesiern befinden sich zurzeit auf der italienischen Insel Lampedusa. Eine humanitäre Katastrophe droht, während sich die EU-Länder über eine mögliche Aufnahme der Flüchtlinge streiten. Deutschland dürfe nicht die Augen vor der akuten Not der Menschen verschließen, sagt der Vorsitzende der EKD-Kammer für Migration und Integration, Volker Jung (51). In einem Gespräch mit evangelisch.de wirbt der hessen-nassauische Kirchenpräsident zugleich für eine "echte Willkommenskultur" gegenüber Migranten und kritisiert die mangelnde Flüchtlingspolitik der Europäischen Union.
17.02.2011
Die Fragen stellten Hanno Terbuyken und Bernd Buchner

Herr Kirchenpräsident, Europa steht vor der Frage: Was lässt sich angesichts der verzweifelten Lage der tunesischen Flüchtlinge auf Lampedusa tun?

Jung: Ganz einfach: helfen. Die Not ernst nehmen und lindern, wie es auch die Bibel beim Umgang mit Flüchtlingen immer wieder einfordert. In der aktuellen Situation ist natürlich Europa gefragt. Es wäre nötig, da eine gute Aufnahmepolitik hinzubekommen. Ich halte insgesamt die Situation an den europäischen Außengrenzen für ausgesprochen schwierig. Was nun passiert, zeigt erneut, wie dringend erforderlich eine europaweite Abstimmung ist, wie man Flüchtlinge aufnehmen und wie man sie verteilen kann. In diesem Fall wünsche ich mir auch von der Bundesrepublik eine Bereitschaft zur humanitären Hilfe.

War es nicht absehbar, dass diese Flüchtlingskrise passieren würde?

Jung: Natürlich ist man hinterher immer schlauer. Man hätte auch denken können, dass die friedliche Revolution die Menschen voller Hoffnung im eigenen Land hält. Nun zeigt sich aber, dass Freiheit auch gestaltet werden muss und mit dem Umbruch nicht automatisch alle Probleme im Land gelöst sind.

Bundeskanzlerin Merkel sagt ganz klar: keine Flüchtlinge nach Deutschland.

Jung: Ich glaube, dass man in dieser besonderen Situation schlicht und ergreifend Offenheit und Humanität zeigen muss. Natürlich geht das nicht unbegrenzt. Aber dass man in dieser speziellen Notsituation sagt: Wir sind bereit, Flüchtlinge aufzunehmen - das würde ich mir doch sehr wünschen. Das wäre übrigens auch ein solidarischer Beitrag Deutschlands zu dieser Revolution.

Positionieren sich in Deutschland die politischen Lager auf Kosten der Flüchtlinge? Ist es eine realistische Position, den Leuten in ihren Herkunftsländern helfen zu wollen, wie sie die CDU zurzeit vertritt?

Jung: Ja, als eine von vielen Maßnahmen ist das denkbar. Es ist sicher nötig und gut, dazu beizutragen, dass in dieser Umbruchsituation die Lebensbedingungen verbessert werden. Man kann auf der anderen Seite trotzdem die Augen nicht vor der akuten Not der Flüchtlinge verschließen, die jetzt um Aufnahme in Europa bitten. Ihnen gegenüber ist eine gewisse Offenheit angesagt, gerade auch um eine eventuelle Unterstützung im Herkunftsland glaubwürdig machen zu können.

Auf Lampedusa suchen 5.000 Menschen Einlass in die EU. Laut Innenministerium haben im vergangenen Jahr 41.332 Menschen in Deutschland erstmals Asyl beantragt. Ist die Angstmentalität "Hilfe, es kommen wieder Ausländer" von den Zahlen her zu rechtfertigen?

Jung: Sicher, man muss immer bedenken, welche Hilfe können wir leisten, was ist möglich und wo liegen unsere Grenzen. Aber gerade diese besondere Situation des Umbruchs stellt auch uns vor besondere Herausforderungen. Wenn wir diesen Flüchtlingen auf Lampedusa helfen, kann Europa damit zeigen, welche humanitären Werte eine Demokratie ausmachen und wie man das einlösen kann. Nach meiner Einschätzung gibt es in Deutschland und Europa grundsätzlich genügend Kraft und Kapazitäten, Flüchtlinge aufzunehmen.

Aus Sicht von Kritikern betreibt Europa schon seit etlichen Jahren eine Abschottungspolitik gerade gegenüber Afrika. Teilen Sie diese Einschätzung?

Jung: Ich teile sie bis zu einem gewissen Grad, ja. Die Situation an den europäischen Außengrenzen halte ich für hochproblematisch. Benötigt wird eine gesamteuropäisch abgestimmte Flüchtlings- und Asylpolitik. Eine generelle, grundsätzliche Abschottung ist ganz klar kritikwürdig, ebenso wie der Ruf nach einem Frontex-Einsatz vor Lampedusa, der am Ende dazu dienen soll, Schutzsuchende zurückzudrängen.

Kirchenpräsident Volker Jung (links) im Gespräch mit den evangelisch.de-Redakteuren Bernd Buchner (Mitte) und Hanno Terbuyken (rechts).

Von verschiedenen Seiten wird eine europäische Quotenregelung zur Aufnahme von Flüchtlingen ins Spiel gebracht. Halten Sie das für einen gangbaren Weg?

Jung: Das ist eine Möglichkeit. Ob es die beste ist, müssen Überlegungen der politischen Vernunft zeigen. Allerdings stehen gerade europäische Binnenländer wie Deutschland in der Pflicht, die Lasten der EU-Mitgliedstaaten an den Außengrenzen auf geeignete und effektive Weise mitzutragen. Deshalb engagieren sich die Kirchen auch hierzulande gegen die so genannte Dublin II-Verordnung, mit der Flüchtlinge nur in dem Land einen Asylantrag stellen können, in welchen sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Entscheidend ist am Ende, dass die Staatengemeinschaft einen sinnvollen Weg findet.

Im Fall Tunesien und Lampedusa geht es erst einmal darum, den Flüchtlingen temporäre Hilfe zu bieten - Essen, Unterkunft, medizinische Versorgung. Aber wie geht es dann weiter? Wie schaffen wir es, Menschen, die aus Not oder gefühltem Druck hierher kommen, so einzubinden, dass sie sich hier wohlfühlen?

Jung: Eine Grundvoraussetzung, die ich mir wünsche, ist, dass wir in Deutschland eine echte Willkommenskultur entwickeln, sowohl für Flüchtlinge als auch für dauerhafte Zuwanderer. Daran fehlt es meines Erachtens. Wir brauchen eine Offenheit, die souverän und gelassen mit dem Phänomen der Zuwanderung umgeht und darin nicht zuallererst eine Belastung sieht, sondern einen menschlichen Gewinn und eine Bereicherung in der kulturellen Vielfalt, die einem Land auch gut tut. Es sind ja zumeist junge Leute, die sich vom Leben etwas versprechen, die aufbrechen und etwas erreichen wollen. Zu leicht wird bei der Debatte übersehen, dass es nicht nur Zuwanderung gibt, sondern auch Abwanderung. Viele der tunesischen Flüchtlinge werden gar nicht dauerhaft bleiben, sondern ziehen weiter oder kehren in ihre Heimat zurück, um beim Aufbau eines neuen Tunesien mitzuwirken. Andere werden aus guten Gründen bleiben wollen und ihre Energie und ihre Fähigkeiten darauf verwenden, sich hier bei uns eine Existenz aufzubauen - wenn wir sie denn lassen. Unser Land braucht solche motivierten jungen Menschen, das sollte nicht vergessen werden.


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