Zugunglück: Ermittlungen gegen Lokführer eingeleitet

Zugunglück: Ermittlungen gegen Lokführer eingeleitet
Menschliches Versagen oder mangelnde Technik? Nach dem Zugunglück in Sachsen-Anhalt gerät der Lokführer des Güterzugs in den Blick der Ermittler. Drei der zehn Toten sind inzwischen identifiziert.
01.02.2011
Von Thomas Struk

Nach dem schweren Zugunglück in Sachsen- Anhalt mit zehn Toten wird gegen den Lokführer des Güterzugs ermittelt. Möglicherweise hatte der 40-Jährige vor dem Zusammenstoß mit dem Personenzug ein Haltesignal übersehen. Es bestehe ein Anfangsverdacht wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung und der Gefährdung des Bahnverkehrs, teilten Polizei und Staatsanwaltschaft am Montag in Magdeburg mit.

Ermittler konzentrieren sich auf Güterzug-Lokführer

Bei dem ungebremsten Zusammenstoß wurde am Samstagabend ein Regionalzug von dem rund 2.700 Tonnen schweren Güterzug von den Schienen geschleudert. Zwei der 23 Verletzten schwebten noch in Lebensgefahr, darunter eine Zehnjährige. 13 Verletzte - unter ihnen zwei Georgier, ein Portugiese und ein Brasilianer - konnten mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen werden. Bei den drei bisher identifizierten Toten handelt es sich um zwei Männer im Alter von 63 und 74 Jahren sowie den 35-jährigen Lokführer des Regionalzugs. Die Identifizierung der anderen sieben Leichen ist schwierig, weil einige Opfer wegen der Wucht des Aufpralls völlig entstellt sind.

Die Ermittler sicherten weitere Spuren. "Die Ergebnisse der Auswertung der beiden Fahrtenschreiber werden frühestens im Verlauf der Woche erwartet", sagte ein Sprecher der Polizei. Es wurde eine gemeinsame Ermittlungsgruppe von Landes- und Bundespolizei gebildet. Der Lokführer des Güterzugs, der aus dem Raum Salzgitter stammt, soll in den nächsten Tagen befragt werden. Den Verdacht gegen ihn führten die Ermittler zunächst auf eine Zeugenaussage zurück. Später wollte Oberstaatsanwältin Silvia Niemann nur noch von "Indizien" sprechen. Auch ein technischer Defekt werde weiterhin nicht ausgeschlossen.

Bahn: Sicherungstechnik für mehr eingleisige Strecken

Die Deutsche Bahn will als Konsequenz aus dem schweren Zugunglück in Sachsen-Anhalt schnellstmöglich mehr eingleisige Strecken mit moderner Sicherungstechnik ausstatten. "Da ist Handlungsbedarf", sagte Bahnchef Rüdiger Grube am Montagabend in der ARD-Sendung "Beckmann". Dies gelte vor allem für Ostdeutschland. Der Konzern wolle dafür rasch alle eingleisigen Strecken analysieren und wo nötig den Einbau eines automatischen Bremssystems aus eigenen Mitteln finanzieren. Vom knapp 34.000 Kilometer langen Schienennetz, das die Bahn betreibt, sind etwa 15.000 Kilometer eingleisig.

Grube erläuterte, an der Unglücksstelle sei der Einbau der "Punktförmigen Zugbeeinflussung" (PZB) für März vorgesehen gewesen. Dies sei im Wissen um den Unfall nun besonders traurig. Der Bahnchef betonte, dass dort das Sicherungssystem PZB, das Züge bei der Fahrt über ein Haltesignal automatisch stoppt, nicht vorgeschrieben sei. Dennoch seien zwischen Magdeburg und Halberstadt bereits 41 Kilometer damit ausgestattet worden, noch 17 Kilometer fehlten.

Bundesweit habe der Konzern seit 2008 rund 600 Kilometer ausgerüstet, 350 Kilometer seien noch geplant. Sobald nun die Analyse aller eingleisigen Strecken vorliege, "werden wir von uns aus ein Programm auf die Schiene setzen, da werden wir gar nicht auf Bundesministerien warten".

Pro Bahn: Oststrecken technisch nachrüsten

Der Fahrgastverband Pro Bahn forderte die Nachrüstung von Sicherheitssystemen auf allen Strecken. Auf dem Streckenabschnitt bei Oschersleben gab es noch kein modernes System, das beim Überfahren eines roten Signals eine Notbremsung auslöst. Im Westen seien die Systeme Standard, in Ostdeutschland dagegen nicht. Auch die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) forderte den Einbau der "punktförmigen Zugbeeinflussung". Sie ist Vorschrift für Strecken, auf denen mehr als 100 Stundenkilometer erlaubt sind. Am Unglücksort war maximal Tempo 100 zulässig. Die GDL sprach auch von einer hohen Arbeitsbelastung vieler Lokführer.

Die Deutsche Bahn wies die Vorwürfe der Lokführer-Gewerkschaft zurück. Es gebe keine Verbindung zwischen dem Unfall von Hordorf und der Personalpolitik des Unternehmens, hieß es am Montag in Berlin. Zu behaupten, der Unfall hätte vermieden werden können, sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt "eine abwegige Spekulation". Das Streckennetz entspreche den gesetzlichen Vorschriften, betonte die Bahn.

Die Bundespolizei wandte sich am Montag gegen Spekulationen, wonach sich der Fahrer des mit Kalk beladenen Güterzugs beim Aufprall nicht im Führerstand aufgehalten hatte, sondern in der zweiten Diesellok. Ein Sprecher der Salzgitter AG, für deren Tochtergesellschaft VPS der Güterzug mit 32 Waggons unterwegs war, wies darauf hin, dass es Zugführern strikt verboten sei, sich in der hinteren Lok aufzuhalten. Der 40-Jährige habe sich auf der Unglücksstrecke gut ausgekannt. Er hatte bei dem Zusammenstoß im dichten Nebel Prellungen erlitten.

Gesperrte Bahnstrecke wieder befahrbar

Die gesperrte Bahnstrecke ist nach Bahn-Angaben ab Dienstagmorgen wieder befahrbar. Zum Gedenken an die Opfer wurden am Unglücksort ein Holzkreuz und Kerzen aufgestellt. In den nächsten Tagen soll es vermutlich in Oschersleben einen zentralen ökumenischen Gottesdienst geben. Innenminister Holger Hövelmann (SPD) ordnete bis Freitag Trauerbeflaggung an öffentlichen Gebäuden in Sachsen-Anhalt an. Er verlangte mehr Investitionen in das ostdeutsche Schienennetz: "Wir sind teilweise noch (...) in der bahntechnischen Steinzeit", sagte Hövelmann dem Sender MDR Info.

Das Bahnunternehmen Veolia Verkehr sagte den Angehörigen der Toten seine Unterstützung zu. Der verunglückte Regionalzug war ein HarzElbeExpress (HEX), der ein Tochterbetrieb von Veolia Verkehr in Sachsen-Anhalt ist. Nach einem Besuch der Unglücksstelle sicherte die Geschäftsleitung am Montag zu, "den Angehörigen der Todesopfer unbürokratisch und kurzfristig Unterstützung zukommen zu lassen, um ihnen über die erste sehr schwere Zeit hinweg zu helfen". Einen Betrag nannte das Unternehmen auf Nachfrage nicht.

dpa