Canisius-Kolleg: Ein Jahr nach dem Sturm kehrt Ruhe ein

Canisius-Kolleg: Ein Jahr nach dem Sturm kehrt Ruhe ein
Er hatte nur mit einigen Meldungen in der Lokalpresse gerechnet, löste aber eine bundesweite Skandallawine aus: Klaus Mertes, Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, machte vor genau einem Jahr 22 Fälle von sexuellem Missbrauch an seiner Schule öffentlich. In einem Brief an 600 ehemalige Schüler entschuldigte er sich im Namen der katholischen Einrichtung für die zum Teil Jahrzehnte alten Taten.
18.01.2011
Von Anja Sokolow

Nach und nach wurden auch in anderen Jesuitenschulen Fälle bekannt. Und nicht nur dort - auch im Benediktinerkloster Ettal oder in der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim, aber auch in anderen Institutionen und im Privaten. Das Thema habe längst die Mitte der Gesellschaft erreicht, sagte im November die neue Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann. Bei deren Telefonhotline sowie per Post meldeten sich seit Frühjahr 2010 bis heute rund 10.000 Betroffene und Angehörige, aber auch Ärzte und Therapeuten.

Gut jeder zweite gemeldete Missbrauch (rund 57 Prozent) fand in der eigenen Familie statt, jeder dritte in Institutionen wie Kirche, Schule oder Verein, sagte eine Sprecherin. Die katholische Kirche nimmt in dieser Gruppe den unrühmlichen ersten Platz ein und leidet unter Imageschaden und Kirchenaustritten.

"Ein Sturm, der ganz viel aufgedeckt hat"

"Das war ein stürmisches Jahr, ein Sturm, der ganz viel aufgedeckt hat, viel verletzt hat, aber auch viel aufgeklärt hat", sagt Mertes heute. Der 56-Jährige wirkt entspannt beim Gang durch die Schule in Berlin-Tiergarten. Am 28. Januar, als "die Bombe hochging" und seine Briefe öffentlich bekanntwurden, war das anders. Denn nach den Journalisten musste er auch seine 850 Schüler bei einer spontanen Versammlung in der Turnhalle informieren. "Ich musste den 10- bis 19-Jährigen völlig unvorbereitet erklären, was sexuelle Gewalt ist, dass sie nicht von bösen Monstern, sondern vom Lieblingslehrer ausgehen kann, und warum 30 Jahre lang geschwiegen wurde", erinnert er sich.

Aus Sicht des Rektors war dies das Schlüsselereignis, das neben späteren Gesprächen viel zur Aufklärung beigetragen hat. "Ich glaube, dass die Schüler nach ein bis zwei Wochen das Gefühl hatten, es begriffen zu haben, und dann ist Ruhe eingekehrt", sagt der Rektor, der Berlin eigentlich im Sommer 2010 turnusmäßig verlassen sollte. Wegen der Turbulenzen blieb er aber zunächst und wechselt in diesem Jahr an das Kolleg im badischen Sankt Blasien. Bei den Lehrern gebe es noch immer Gesprächsbedarf und auch "ein Gefühl von Opfersein". Schließlich hätten sie plötzlich "wegen Verbrechern, die vor 30 Jahren hier schlimme Sachen gemacht haben", unter Generalverdacht gestanden, sagt Mertes.

Von Äußerlichkeiten hält der Jesuit nicht viel. Vor einem Jahr warnte er daher vor allzu schnellen Veränderungen. "Das Thema ist viel zu tief, als dass man mit einem neuen Gremium und drei, vier Papieren real etwas verändern kann." Tatsächlich gibt es aber einige Neuerungen. So gründete das Canisius-Kolleg mit anderen katholischen Schulen und Vereinen das Netzwerk Kinderschutz. Auch Präventionsrichtlinien wurden erarbeitet.

Aufklärung stärkt das Vertrauen

Am Kolleg habe sich die Atmosphäre verändert, berichtet der Rektor: "Insgesamt gibt es eine Stärkung des Vertrauens, weil die Aufklärung das Vertrauen stärkt." Und plötzlich kämen auch Schüler zu Ehemaligentreffen, die sonst nicht dabei waren und sich nun als Opfer zu erkennen geben.

Zu den Opfern zählt auch der 47-jährige Matthias Katsch, der im Januar 2010 das Gespräch mit Mertes suchte und die Lawine mit auslöste. Er wurde als 13-Jähriger von zwei Patres missbraucht und hat im vergangenen Jahr den "Eckigen Tisch" als Opfervertretung gegründet. "Das Jahr war auf persönlicher Ebene ein Erfolg. Alle Betroffenen haben gespürt, dass sich etwas in ihrem Leben verändert hat", sagt Katsch. Mertes habe erreicht, dass die Opfer ernst genommen worden seien. "Die Erkenntnis, du bist nicht allein, war für viele Betroffene eine befreiende Erfahrung."

80.000 Euro für das "nichtgelebte Leben" gefordert

Ein Thema bleibt allerdings noch offen: die Entschädigung. Mit einer vom Jesuitenorden angebotenen vierstelligen Summe wollen sich die Opfer nicht zufriedengeben. Der "Eckige Tisch" fordert pauschal 82.373 Euro pro Person. Dies sei der Durchschnitt der in den letzten Jahren durch Gerichte festgesetzten Schmerzensgelder für Schäden der Seele. "Wir wollen etwas in der Hand haben für das nichtgelebte Leben und zur Lebensbewältigung", sagt Katsch.

Der Vorschlag des Ordens sei eine "hilflose Geste" und habe nicht den Anspruch, den real entstandenen Schaden zu entschädigen, denn das gehe nicht, erklärt Mertes. Er wünscht sich Institutionen, die den Opfern helfen, etwa einen Fonds, der Therapien oder Alterssicherung unterstützt. Mit dem Thema Entschädigung wollen sich in diesem Jahr die Bischofskonferenz und der Runde Tisch weiterhin beschäftigen. Katsch, für den das lange Warten "frustrierend" ist, hofft, dass bis zum Papstbesuch in Deutschland im September eine Lösung gefunden ist. 

dpa