Afghanistan und der Stand der Dinge

Afghanistan und der Stand der Dinge
Neun Jahre Krieg in Afghanistan - erstmals sprechen die USA von echten Erfolgen. Dabei starben dieses Jahr mehr ausländische Soldaten als je zuvor. Auch das Rote Kreuz sieht die Zukunft düster.
16.12.2010
Von Peer Meinert und Can Merey

Barack Obama, "Commander-in-Chief" der US-Truppen, hat lange warten müssen, bis er erste Erfolge im Afghanistankrieg verkünden konnte. Jetzt, kurz vor Weihnachten, sind die Botschaften über die Fortschritte im Kampf gegen die Taliban wie Balsam für die amerikanische Seele. Zwar räumt die neuste Bilanz ein, dass es noch erhebliche Probleme gebe. Doch die Message, die Obama unters Volk bringen will, ist klar und deutlich: Es geht aufwärts, im nächsten Jahr kommen die ersten Jungs nach Hause. - Endlich kann der angeschlagene Präsident mal eine gute Nachricht verbreiten.

Doch ob die gute Nachricht für die amerikanischen Truppen auch eine gute Nachricht für Afghanistan bedeutet, ist fraglich. Wohl kaum ein Zufall, dass sich das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) just einen Tag vor der Veröffentlichung des US-Berichts zu Wort gemeldet hatte. Normalerweise hält sich die Hilfsorganisation mit öffentlichen Äußerungen zurück.

"Dunkle Phase"

Doch was Reto Stocker, IKRK-Chef für Afghanistan, in Kabul zu sagen hatte, ist schockierend: Von einer "neuen, recht dunklen Phase" des Konflikts sprach er. Immer mehr Afghanen gerieten ins Kreuzfeuer. Für Helfer werde es immer schwieriger, Menschen in Not zu erreichen. Wörtlich: "Der Konflikt ist jetzt in seinem zehnten Jahr. Er breitet sich aus. Es ist kein Ende in Sicht." Düsterer könnte eine Bilanz kaum ausfallen.

Auch neuste Zahlen über tote Soldaten sprechen eine klare Sprache: Das neunte Kriegsjahr ist für die ausländischen Truppen am Hindukusch zugleich das verlustreichste. 690 ausländische Soldaten kamen ums Leben. Weitaus mehr Tote gab es bei den afghanischen Sicherheitskräften. Bittere Bilanz auch bei den Zivilisten: Allein im ersten Halbjahr starben fast 1300 Unbeteiligte, ein Fünftel mehr als im Vorjahreszeitraum.

Doch der Bericht, den Obama an diesem Donnerstag vorlegt, konzentriert sich nicht auf die Opfer, sondern auf den Kampf gegen die Feinde. Zwar gebe es echte Erfolge im Vorgehen gegen Taliban und Al-Kaida, doch zugleich versucht der Bericht, allzu große Hoffnungen zu dämpfen. "Diese Fortschritte bleiben zerbrechlich und umkehrbar." Nach Durchbruch oder gar "Sieg" klingt das nicht. Der ernüchternde Kern der Botschaft: Es ist noch viel zu tun.

Entwicklungsstrategie

Vor allem Pakistan macht weiter Sorge. Harsche Kritik an dem wackeligen Verbündeten wird zwar vermieden. Doch wenn es gelingen soll, den Talibankämpfern die Rückzugsgebiete in den Grenzregionen zu nehmen, brauche es "größere Zusammenarbeit" mit Pakistan. Zugleich räumt der Bericht aber ein, dass dies nicht durch militärische Mittel allein geschehen könne. Was nottue, sei auch eine "wirksame Entwicklungsstrategie".

Doch der Schlüsselsatz, auf dem es Obama in seiner vorweihnachtlichen Botschaft ankommt, ist ein ganz anderer. "Unsere Strategie in Afghanistan ist es, die Bedingungen zu schaffen, um im Juli 2011 eine verantwortungsvolle Verringerung der US-Truppen zu beginnen."

Frage des Abzugs

Schon seit längerem gibt es in Washington kaum noch Zweifel, dass Obama vor allem eines im Sinn hat - die "Exit Strategy", den Ausweg aus dem Krieg. Obama weiß: Neben der schlechten Wirtschaftslage ist der Krieg in Afghanistan zu seiner Achillesferse geworden. Neue Umfragen, wonach 60 Prozent der Amerikaner meinen, der Kampf am Hindukusch lohne sich nicht, lassen im Weißen Haus die Alarmglocken schrillen.

Schon meinen Kritiker, der Bericht weiche der entscheidenden Frage aus: Wie viele Amerikaner werden im nächsten Jahr tatsächlich nach Hause kommen. Wenn Obama seine Chancen wahren wolle, 2012 wiedergewählt zu werden, müsse er vor allem für eins sorgen - dass bald viele "Jungs" heil nach Hause kommen.

dpa