Kommerz oder Krippe? Der Adventskalender

Kommerz oder Krippe? Der Adventskalender
Adventskalender gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Mit Kreidestrichen an der Wand, Strohhalmen in der Krippe oder Kerzen am Adventskranz bereiteten Eltern ihre Kinder auf das Weihnachtsfest vor. Heute ist das Kind in der Krippe teilweise in den Hintergrund gerückt: Adventskalender sind kreativ, lustig und zum Teil sehr teuer geworden.
25.11.2010
Von Judith Kubitscheck

Das mannshohe Prachtstück ist aus gebürstetem Aluminium gefertigt, die Oberfläche mit Klavierlack veredelt. Der Adventskalender im Londoner Kaufhaus Harrods ist kein Schnäppchen: Eine Million US-Dollar kostet der wohl teuerste Adventskalender der Welt.

Hinter jedem Türchen verbergen sich "Kleinigkeiten" wie eine Sonnenbrille aus 18 Karat Gold, ein Motorboot für den Herrn und eine Designerküche für die Dame. Das britische Kaufhaus bietet fünf Exemplare an, für jeden Kontinent eines. Angeblich sollen all diese Kalender schon einen Besitzer gefunden haben.

Für Erwachsene: 24 Erotikartikel oder Biersorten


Auch wenn hinter den meisten Papptürchen keine Golduhren stecken - überall in den Geschäften türmen sich derzeit die Adventskalender. Fast alle Spielzeugmarken von Barbie über Playmobil bis Lego bieten ihre Produkte im Kalenderdesign an. Und natürlich hat auch jede Süßwarenfabrik den Ehrgeiz entwickelt, ihre persönliche Adventskalendervariante zu präsentieren.

Auch Erwachsene werden bedient: 24 verschiedene Biersorten für den Mann, Kosmetik, Wellnessprodukte für die Frau, einen erotischen Adventskalender für beide - "für den heißesten Advent Ihres Lebens", verspricht die Werbung im Internet. "Die Geschenke in den Kalendern werden immer größer und teurer. Manchmal ist der Kalender selbst schon ein teures Geschenk", erklärt Volkskundlerin Esther Gajek aus Regensburg. Sie besitzt die weltweit größte Sammlung an Adventskalendern: 3.000 Stück aus mehr als 100 Jahren.

Im 19. Jahrhundert: Strohhalme und Kreidestriche


Die ersten Vorläufer kamen im 19. Jahrhundert im protestantischen Umfeld auf. Mit einfachen Mitteln versuchten Eltern, ihre Kinder auf die Menschwerdung Gottes vorzubereiten. In manchen Familien wurden 24 Kreidestriche an die Tür gemalt, von denen die Kinder täglich einen Strich wegwischen durften. Auch der Adventskranz, den der Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern erstmals 1839 in einem Heim für verwahrloste Jugendliche aufhängte, hatte zu Beginn nicht vier, sondern vierundzwanzig Kerzen. In katholischen Elternhäusern legten die Kinder jeden Tag einen Strohhalm in die anfangs leere Krippe, damit das Christkind am Heiligen Abend weich gebettet sei.

Um 1850 machte das Bürgertum das kirchliche Christfest zu einem Familienfest mit Bescherung unterm Weihnachtsbaum. Diese Profanisierung von Weihnachten spiegelte sich auch später in der Motivwahl der Deckblätter und Tagesmotive der gedruckten Adventskalender wider. Verschneite Dörfer, Winterszenen und Weihnachtsbäume sind zu sehen, kaum noch das biblische Bethlehem. Religiöse Motive sind laut Esther Gajek auf den gedruckten Kalendern verschwindend selten. Meist verberge sich allein an Heiligabend das Kind in der Krippe hinter der letzten Türe.

Seit 100 Jahren Adventskalender-Massenproduktion


Die Massenproduktion der Weihnachtskalender setzte vor rund 100 Jahren ein. Der erste gedruckte Adventskalender hatte noch keine Türchen und wurde 1908 von dem Münchner Verleger Gerhard Lang auf den Markt gebracht. Farbenprächtige Zeichnungen konnten ausgeschnitten und auf einen Pappkarton geklebt werden.

Laut Markus Mergenthaler, Herausgeber des Buchs "Adventskalender im Wandel der Zeit", orientierte sich Lang an den Wünschen der Konsumenten und bot jedem Alter und jedem Geschmack eine Kalendervariante an. Der "Erfinder des Adventkalenders", wie sich Lang selbst bezeichnete, habe bewusst Wegwerfartikel kreiert, um im kommenden Jahr an neuen Kalendern Geld zu verdienen.

Seit 1946 produziert als einziges Unternehmen in Deutschland der Richard-Sellmer-Verlag in Stuttgart das ganze Jahr über ausschließlich Adventskalender. Millionen davon exportiert er jährlich in mehr als 30 Länder, allen voran England und die Vereinigten Staaten. "Hier sind die religiösen Motive sehr viel mehr als in Deutschland gefragt", sagt Annette Sellmer vom Richard-Sellmer-Verlag. Schon im März gingen die ersten Sendungen auf das Schiff nach Übersee oder auch nach Japan.

Kirchen verschicken Texte und Bilder zum Advent


Schon seit Jahren versuchen die Kirchen, dem Adventskalender zu seinem ursprünglichen Sinn zurückzuverhelfen, der mentalen Vorbereitung auf das Christfest. Der Adventskalender von evangelisch.de zum Beispiel besteht aus 24 E-Mails, je ab dem 1. Dezember anstelle von "Türchen" jeden Morgen geöffnet werden. Auch für andere kann man diesen Adventskalender als Überraschung abonnieren. Die evangelischen und katholischen Kirchen in Baden-Württemberg versenden dieses Jahr in der ökumenischen Aktion "Advent online" ebenfalls meditative Texte per E-Mail. Schon seit 16 Jahren verschickt der ökumenische Verein "Andere Zeiten" mit Sitz in Hamburg den Kalender "Der andere Advent" mit Texten und Bildern.

Die evangelische Landeskirche in Württemberg gestaltete vor einigen Jahren den nach eigenen Angaben größten Adventskalender der Welt: Jeden Tag öffnete sich die Türe eines Kirchengebäudes, und es gab Weihnachtsduft, Ausstellungen, Adventslieder. Ein Rekord mit wenig Kommerz aber viel Krippe.

Für alle, die mehr über Adventskalender erfahren möchten veranstaltet das Nürnberger Spielzeugmuseum eine Ausstellung zum Thema "Einmal werden wir noch wach... Adventskalender aus hundert Jahren". Sie läuft bis zum 7. Januar 2011 in der Ehrenhalle des Rathauses Nürnberg. Der Eintritt ist frei. 

epd