Die Ernte: Jetzt sind sie aber fällig!

Die Ernte: Jetzt sind sie aber fällig!
Ob Tulpen oder Tomaten, Erdbeeren oder Salat: Wir sehnen die Ernte herbei. Und schieben sie hinaus. Der richtige Zeitpunkt ist eine Wette mit dem Himmel.
03.10.2010
Von Eva Demski

Herr, es ist Zeit - so hebt ein berühmtes Gedicht an, so berühmt, dass es sogar ein poetisch eher unverdächtiger ehemaliger Bundeskanzler aufsagen konnte. Und ob nun der Sommer sehr groß ist oder klein und hässlich, zu dieser Feststellung wird es niemals kommen bei Gartenbesitzern, sondern nur zu jener Frage, die nicht beantwortet werden kann: Ist es Zeit? Oder sollen wir noch ein bisschen warten?

Ernte gleicht einem Spiel, immer wieder geht es um den Versuch, mit dem Himmel zu handeln, ihn zu beschwören, letztlich auf seine Freundlichkeit zu hoffen: Auf dass Trauben die letzte Süße, Aprikosen rote Bäckchen, Tomaten das ultimative Aroma und Salat den zartesten Kopf hergeben mögen. Aber einen Tag, einen Regen zu lang gewartet, die Trauben platzen, die Aprikosen sind matschig, die Tomaten gerissen und der Salat geschossen. Die Zeit der Reife, ein unlösbares Rätsel. Wer sagt, wann es so weit ist? Der Dichter tut sich leicht. Beim Blick in den Spiegel ist man ja auch unschlüssig.

Ernten: Ein Wort voller Bilder

Angesichts eines Baumes voll immer noch ziemlich saurer Schattenmorellen nützt uns das alles nichts. Wir lassen sie noch hängen, es ist wunderbares Wetter, die Sonne soll die schwarzen, dünnhäutigen Kirschen für uns noch ein bisschen zuckern. Ach, Kirschernte, seit Menschengedenken die schönste Verbindung zwischen ernten und klauen. Für die Freiburger Studenten waren die Kirschbäume im Kaiserstuhl jedes Jahr ein Fest, ein Erntefest im schönsten Sinn. Die Kirschbauern sahen das anders. Sie schossen mit Schrot nach den Dieben.

Unsere eigenen Schattenmorellen jedenfalls waren erntereif, süßwürzig, es wäre die richtige Zeit gewesen, genau zwischen reif und vollreif. Bis wir so weit waren, hatten Profis schon die Sache erledigt, in Windeseile war der Baum abgeleert worden. Von den Staren.

Ernten, das Wort wird weiter, je länger man es bedenkt. Es reicht von den riesigen Maschinen, die bis zum Horizont reichende Felder abmähen, der Mensch nur als winziges Figürchen hoch oben auf den Ungetümen, bis zur Rührung über den einzigen makellosen Apfel, den die Würmer uns übrig gelassen haben. Kann man nur ernten, was einem gehört? Besitzer lassen ernten, das war schon immer so, und sie sind es, die bestimmen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Die Erntenden haben nichts zu melden und liefern die Ernte ab.

Ernte ist Mythos und Geschichten

In meiner Kindheit waren es die Hopfenzupfer in der Holledau, die einem noch eine Anmutung Steinbeck'scher Erntehelferromantik gaben. Über ihr Lotterleben wurde viel erzählt. Hopfen zupfen war eine gemeine Arbeit, weil die Dolden und Ranken kratzig und widerspenstig waren und die Haut ruinierten. Das Pflückervolk galt trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - als der lustigste und wildeste Haufen, den man sich denken konnte. Sie hatten ihre eigene Musik, tranken furchtbar viel und taten wohl überhaupt alles gern, was verboten war. Eine Zeit lang wollten wir Kinder unbedingt Hopfenzupfer werden. Ohne die Erntehelfermythen aus dem Süden der Vereinigten Staaten wäre deren Literatur sehr viel ärmer. Heute haben sie dort und hier Maschinen.

Ernten ist Fülle, aber auch Abschied und Ende. Beides will gefeiert werden, damit man das Traurigwerden noch ein bisschen hinausschieben kann.

Fangen wir mit der Fülle an, wie schön ist doch der Anblick übervoller Körbe! Leider ist er auch ziemlich schrecklich, wenn man ein wenig weiterdenkt. Denn man muss mit dem Erntesegen etwas anfangen, sonst vergammelt er. Früher brodelten tagelang die Einmachtöpfe, heute ächzt die Gefriertruhe unter den Lasten und enthüllt, sie habe noch Brombeeren von vor sieben Jahren im Bauch. Es gibt jeden Tag Bohnen, bis sie einem aus den Ohren kommen. Die übrigen wollen geschnippelt, blanchiert, verpackt sein. Oder verschenkt.

Den übrigen Salat kriegen die Ziegen

Zur Erntezeit kann es passieren, dass einen Freunde von weitem kommen sehen, einen schweren Korb in der Hand, und sich so lang unters Fenster ducken, bis man wieder weg ist. Natürlich haben wir ihn vor der Tür stehen lassen, den Korb voll Pflaumen. Oder Zucchini. Die Zucchiniernte ist eine der bedrohlichsten. Immer wenn man denkt, jetzt sei es endlich aus mit ihnen, schaut unter dem Blattwerk noch eine von Baseballschlägergröße hervor, die sich erfolgreich versteckt hatte. Fülle macht hilflos und deswegen irgendwann respektlos. Füttert man mit dem überzähligen Salat halt die Ziegen! Und denkt nicht mehr dran, welche Mühe in jedem Kopf steckt. Säen, pikieren, auspflanzen, Schneckenzäune ziehen, jäten, wieder jäten - ach. Aber natürlich schmeckt man das auch! So geht jedenfalls die Mär, die lebensnotwendige!

Bei Brom- und Himbeeren ist die Sache anders, die wachsen von allein, wollen dafür aber zur Reifezeit freiwillig nichts hergeben und kratzen jeden, der sich um sie bemüht. Das ist kein wirkliches Ernten, dazu ist das Wort zu gelassen. Es ist eher Kampf. Und Gier, denn man könnte ja nur so viele nehmen, wie man essen kann, und den Rest für andere Menschen und viele Tiere an den Büschen lassen. Aber das bringt man nicht fertig, lieber fährt man noch mal heim und holt Schüsseln.

Zum Melancholischwerden gibt's den Winter

Das ist die Sache mit der Fülle, unter der man stöhnt, nach der man aber nicht aufhört, sich zu sehnen.
Und der Abschied? Woher soll man wissen, wann die richtige Zeit ist, sich mit dem unausweichlichen Winterschweigen abzufinden?

Vor zweitausendsechshundert Jahren beschrieb die große Sappho eine Sehnsucht, die bis heute und vielleicht ewig gilt:

Wie der Apfel da oben so rot wird
und süß -
Ganz da oben, am entferntesten Zweig!
Haben sie ihn zu pflücken vergessen?
Vergessen nicht, nein!
Sie haben ihn bloß nicht erreicht!


Allerdings hat Erntezeit, ob man damit den einen Zwetschgenbaum im Schrebergarten oder unendliche Weizenfelder,Weinberge oder Erdbeerplantagen meint, den Vorteil, dass man wenig Zeit zum Grübeln hat. Die Wetten mit dem Himmel sind jedes Jahr von neuem spannend. Und zum Melancholischwerden gibt's den Winter. Aber da kann dann der Blick auf die Fülle in der Kühltruhe helfen.


Für die Frankfurter Schriftstellerin Eva Demski ist ihr Garten ein Stück Himmel auf Erden. Ihr jüngstes Buch ist "Gartengeschichten". Der vorliegende Text erschien in chrismon 6/2010.