Kirchenstruktur seit vier Jahrhunderten unverändert

Kirchenstruktur seit vier Jahrhunderten unverändert
Pfarrerwahl durch die Gemeinde, Gleichberechtigung von Geistlichen und Laien, Parlamente als Entscheidungsgremien: Die Grundlagen der evangelischen Kirchenstruktur sind über 400 Jahre hinweg unverändert geblieben.
26.08.2010
Von Marlene Grund und Esther Soth

Am 7. September 1610 versammeln sich in der ehrwürdigen spätgotischen Duisburger Salvatorkirche 36 Männer. Die 28 Pfarrer und acht Ältesten aus den noch jungen reformierten Gemeinden am Niederrhein und dem Bergischen Land wollen eine Kirchenstruktur für ihre Konfession aufbauen, die in den machtpolitischen Ränkespielen auch bei wechselnden Landesherren bestehen kann. Sie ahnen nicht, dass ihre Entscheidung auf der ersten Reformierten Generalsynode auch noch 400 Jahre später die evangelische Kirche prägen wird.

Die Runde hat einen passenden Zeitpunkt abgewartet. "Sie nutzen die Gunst der Stunde", sagt Stefan Flesch, Archivdirektor der Evangelischen Kirche im Rheinland, die Anfang September mit einer Festwoche an die Ereignisse vor 400 Jahren erinnert. Im Erbfolgestreit um das Herzogtum Jülich-Kleve-Berg schließen sich die Rivalen Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg (1572-1619) und Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg (1578-1653) zunächst zusammen, um ihre Interessen gegen den habsburgischen Kaiser zu verteidigen. Um weitere Verbündete zu gewinnen, schlagen die beiden lutherischen Fürsten einen religiösen Toleranzkurs ein und erkennen die katholische sowie "andere christliche Religionen" an.

Einst als Schutz gegen Landesherren gedacht ...

Dass die reformierten Gemeinden damals mitgemeint waren, stehe nicht zweifelsfrei fest, sagt der Trierer Kirchengeschichtler Andreas Mühling. Doch die Reformierten nutzen ihre Chance: Angesichts wechselnder Machtverhältnisse streben sie eine über die bisherigen Provinzen hinausreichende eigene Organisation an, die sich auch gegenüber nicht wohlgesinnten Landesherren behaupten kann. Vom 7. bis 11. September 1610 kommen dann die "Deputirten" aus den Provinzialsynoden Jülich, Kleve und Berg, den Reichsstädten Duisburg und Aachen, der Grafschaft Moers und benachbarten Gebieten nach Duisburg. Die erste Generalsynode beschließt, neben der Heiligen Schrift den Heidelberger Katechismus zur Grundlage der Glaubenslehre zu machen.

[reference:nid=22445] Kernstücke der Synodenbeschlüsse sind aber die Vereinbarungen zur künftigen Kirchenstruktur: Die Gemeinden werden von Presbyterien geleitet, wählen ihre Pfarrer selbst und betrachten Theologen und Laien als gleichberechtigt. Um die wachsende Kirche zu leiten, entsenden die Presbyterien der Gemeinden Vertreter zu den Klassikalkonventen (Kirchenkreis), diese entsenden wiederum Abgeordnete zur Provinzialsynode und von dort gehen Delegierte zur Generalsynode. Presbyterien und Synoden verhandeln sämtliche "Kirchensachen" - von unten nach oben, in Gemeinschaft. Mit dieser Verfassung stehen die Reformierten am Niederrhein im Gegensatz zu den Landeskirchen ihrer Zeit, an deren Spitze die Landesherren stehen.

... setzt sich das System später überall durch

Eigentlich sollte die "Interims-Ordnung" lediglich schlechte Zeiten überbrücken, wie Mühling erläutert. Schon 1613 kippen die politischen Machtverhältnisse im Herzogtum Jülich-Kleve-Berg wieder. Es folgen jahrzehntelange Kontroversen, der Dreißigjährige Krieg, Zeiten religiöser Verfolgung. Doch die presbyterial-synodale Ordnung bleibt. Die in den reformierten Gemeinden verankerte Kirchenstruktur findet Eingang in die 1835 eingeführte rheinisch-westfälische Kirchenordnung, die wiederum Vorbild für viele evangelische Landeskirchen ist. Nach dem Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments setzt sich das presbyterial-synodale System im 20. Jahrhundert flächendeckend durch.

In allen Landeskirchen werden die Gemeinden heute von gewählten Gremien geleitet - Presbyterien oder Kirchenvorständen. Überall gibt es zudem einen synodalen Überbau. Als sich 1948 schließlich die rheinische Kirche selbstständig macht, legt sie der Kirchenordnung das presbyterial-synodale Prinzip zugrunde. Auch die westfälische Kirche schreibt für sich diese Grundordnung fest. Diese sei kein starres Prinzip, sondern könne neue Strömungen aufnehmen, begründet Mühling den Erfolg des 400 Jahre alten Modells. "1610 zeigt deutlich: Evangelische Kirche ist eine auf Dialog hin angelegte Kirche." Immer wieder müssten die vier Grundelemente - Gemeinde, Presbyterium, Synode und Kirchenleitung - neu ausbalanciert werden.

Schneider: Ziemlich sensationell

Als "ziemlich sensationell" bezeichnet Präses Nikolaus Schneider (Foto: dpa) die Beschlüsse der damaligen Duisburger Generalsynode. Die Festwoche, mit der die rheinische Kirche an ihre Ursprünge erinnert, dauert vom 4. bis 12. September. Die Gleichberechtigung von Geistlichen und Laien, die Selbstverwaltung der Gemeinden und die Kirchenleitung von unten nach oben gälten nicht nur in der rheinischen Kirche bis heute, sondern hätten auf die gesamte protestantische Kirche in Deutschland ausgestrahlt, so Schneider, der amtierender EKD-Ratsvorsitzender ist. Auch die damals beschlossene "Armenfürsorge" und die Errichtung von Schulen würden noch heute als kirchliche Aufgaben verstanden.

Zur Evangelischen Kirche im Rheinland gehören zwischen Emmerich und Saarbrücken rund 2,8 Millionen Protestanten. Die Landessynode will sich auf einer außerordentlichen Tagung am historischen Ort mit der Bedeutung der Beschlüsse von 1610 für heute beschäftigen. Im Mittelpunkt der Beratungen sollen die Themen presbyterial-synodale Ordnung, Bildung und Religionsfreiheit stehen. Während 1610 die Reformierten um Anerkennung gekämpft hätten, gehe es heute um religiöse Toleranz von Muslimen und die "Frage nach dem Umgang mit Fremden", sagte Schneider.

epd