Lena beschert Deutschland ein vorgezogenes Sommermärchen

Lena beschert Deutschland ein vorgezogenes Sommermärchen
Triumphale Heimkehr: Tausende Fans haben der Siegerin des Eurovision Song Contest, Lena Meyer-Landrut, in ihrer Heimatstadt Hannover einen enthusiastischen Empfang bereitet.
30.05.2010
Von Patrick T. Neumann

Ganz Europa ist verrückt nach Lena, und die Fans zu Hause feiern ihr Frühsommermärchen. Unbekümmert, kokett, schlagfertig - so präsentierte die 19-jährige Abiturientin im kontinentalen Konzertsaal ein Deutschland im 20. Jahr der Wiedervereinigung. Und in knapp zwei Wochen beginnt die Fußball-WM - eine beflügelte Nation wird auf das nächste Happy End hoffen. Mit ihrem Triumph beim 55. Eurovision Song Contest am Samstagabend in Oslo gelang Lena Meyer-Landrut ein historischer Sieg - für sich, für ihren Förderer Stefan Raab, für die ARD und natürlich für Millionen Fans in Deutschland.

Endlich ist die Durststrecke überwunden - 28 Jahre zuvor hatte Nicole ("Ein bißchen Frieden") erstmals die Trophäe gewonnen. Historisch - das klingt ziemlich hochgestochen angesichts eines Wettbewerbs, bei dem es vor allem um eines geht: Gaudi. Die "Europameisterschaft im Singen" (Raab) ist seit jeher ein etwas schräger Wettbewerb, bei dem Äpfel gegen Birnen antreten: Wer kann schon herzergreifende Balladen, krachende Rocksongs, fetzige Dance-Pop-Nummern und Ethnopop miteinander vergleichen? Trotzdem stimmt die Einordnung.

Ins Gedächtnis der Deutschen eingebrannt

Für Lena - weil sie mit diesem Sieg unsterblich wird, selbst wenn sie kein einziges Lied mehr veröffentlicht. Nicole ist ebenfalls ins Gedächtnis der Deutschen eingebrannt. Für Stefan Raab - das einst ungeliebte TV-Lästermaul hat sich mit seiner seriösen, von allen Seiten hochgelobten Castingshow "Unser Star für Oslo" endgültig in die erste Reihe der Fernsehunterhaltung gespielt und den Titel "Mr. Grand Prix" von Urgestein Ralph Siegel übernommen. Für die ARD - der zuletzt totgesagte Song Contest ist Gesprächsthema Nummer eins, die Einschaltquote traumhaft: 14,69 Millionen sahen Lenas Sieg, das war fast jeder zweite TV-Zuschauer. So brachte selbst die ehrwürdige "Tagesschau" den Sieg Lenas als Aufmacher.

Und nicht zuletzt für die Nation: Angesichts von Finanzkrise und Koalitionsknatsch sehnen sich die Menschen offensichtlich nach dem Guten und Schönen - und schließen das neue Fräuleinwunder Lena dankbar ins Herz. Kaum eine böse Schlagzeile, kaum ein linkes Wort fiel in den drei Monaten, nachdem Lena zum ersten Mal bei Raabs TV- Casting auffiel. Selbst das Skandälchen mit einer hastigen Nackt- Szene in einer RTL-Soap, die Lena als Statistin drehte, prallte an ihrem Charme ab.

Westerwelle sieht Vorurteile widerlegt

Dafür gab es am Sonntag Lob höchster Würdenträger, die alle ein bisschen was von dieser Aura abhaben wollen: "Sie ist ein wunderbarer Ausdruck des jungen Deutschlands", ließ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) per "Bild"-Zeitung verkünden. Ihr Außenminister Guido Westerwelle (FDP) erhob die Enkelin eines früheren Botschafters in den Diplomatenstand: "Ob gewollt oder nicht, Sie sind eine Botschafterin für unser Land, die in einer Nacht so manches althergebrachtes Vorurteil sympathisch widerlegt hat."

Und Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) jubelte noch in der Nacht: "Das ist ein großer Tag für Deutschland und natürlich auch Niedersachsen. Schön, dass sie mit ihrer einzigartigen Ausstrahlung und Spontanität die Herzen auch in Europa erobert hat." Wulff begrüßte Niedersachsen-Lena denn auch am Nachmittag am Flughafen in Hannover persönlich. Für sie wurde der rote Teppich ausgerollt, tausende Fans jubelten ihr zu. "So empfangen wir hier Präsidenten, aber ich denke, Lena hat es verdient. Sie hat unser Land angemessen vertreten", sagte Wulff. Die kommentierte gewohnt cool: "Das ist krass, ihr seid ja verrückt. Es regnet, geht doch rein", rief sie den Wartenden per Megafon zu.

Titelverteidigung im nächsten Jahr?

Danach ging es zum Empfang in ihrer Heimatstadt, wo tausende Fans vor dem Rathaus den Chorus "Oh wie ist das schön" anstimmten und Lena noch einmal ihren Siegersong "Satellite" präsentierte - und Raab eine Kampfansage machte: Lena soll im kommenden Jahr ihren Titel verteidigen, rief er den Fans zu. "Gestern hat das ja keiner so richtig ernst genommen." Da hatte er sich schon aus dem Fenster gelehnt. Abwarten. Zuvor hatte Lena die deutsche Grand-Prix-Delegation in der Sondermaschine in Oslo warten lassen: Sie hatte gefeiert, war nur zweieinhalb Stunden im Bett gewesen.

Es war aber auch zu schön, das Finale der 25 Besten. Der Wettbewerb, eröffnet von der Mitfavoritin Safura aus Aserbaidschan - am Ende auf Platz fünf -, hatte ein ungewohnt hohes Niveau; Ohrenschmerzen auslösende Beiträge zum Abschalten gab es diesmal kaum. Lena durfte als 22. der 25 Finalteilnehmer ran - zu Beginn sichtlich nervös und etwas kurzatmig, aber mit unheimlich viel Spaß und Energie verzauberte sie die mehr als 100 Millionen Zuschauer vor den Fernsehern ebenso wie die 18.000 Fans in der überdachten Osloer Fußballhalle.

Neun Mal gab es dafür "twelve points", die traditionelle Grand- Prix-Höchstwertung. Überhaupt gab es Punkte von fast überall her - ob aus Lettland, Schweden oder der Slowakei. Nur fünf der 38 Konkurrenten bedachten Deutschland mit null Punkten. Ziemlich schnell lag Lena vorn, noch deutlich vor Ende der Abstimmungsphase war klar: Deutschland ist Eurovisions-Meister! Die Stimmung der mehreren zehntausend Fans bei den großen Partys auf der Hamburger Reeperbahn und vor dem Hannoveraner Rathaus kochte über - um es mit Lenas Worten direkt nach dem Finale zu sagen: "Das ist wahnsinnig!" Und der sonst so selbstbewusste Raab meinte: "Wir sind total schockiert!"

"Ein Super-Jahrgang"

Mit deutlichem Punkterückstand folgten die starken Rocker maNga ("We Could Be The Same") aus der Türkei vor dem rumänischen Duo "Paula & Ovi", das auf Latex-Sex, ein Plexiglas-Klavier, viel Feuer und den eingängigen Popsong "Playing With Fire" setzte. "Ein Super-Jahrgang", urteilte ARD-Moderator Peter Urban. Zu den wenigen Ausrutschern gehörten die Briten, mal wieder: Der junge Sänger Josh Dubovie lag bei seinem Billig-Pop-Beitrag "That Sounds Good To Me" mehrmals mächtig neben den Noten: letzter Platz.

Überschwängliches Politikerlob, Heimflug per Sondermaschine, Empfang mit Eintrag ins Goldene Buch der Stadt, großformatiger Jubel auf Titelseiten: Der Eurovisions-Sieg von Lena fühlt sich schon ein bisschen an wie ein Weltmeistertitel der Nationalelf. Vielleicht ein gutes Omen für die Kicker von Jogi Löw, die immerhin seit 20 Jahren auf den nächsten WM-Sieg warten.

dpa