"Kirche muss Orientierung bei großen Fragen geben"

Heinrich Bedford-Strohm
© epd-bild/Theo Klein
Heinrich Bedford-Strohm beendet im November seine Tätigkeit als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Gespräch zieht er eine Zwischenbilanz.
Interview Heinrich Bedford-Strohm
"Kirche muss Orientierung bei großen Fragen geben"
Seit Jahren ist Heinrich Bedford als bayerischer Landesbischof und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für seine Kirche unterwegs. Das Führungsamt auf Bundesebene wird er im November abgeben. Im Gespräch zieht der Theologe eine erste Zwischenbilanz und beschreibt die weiterhin wichtigen Aufgaben der Kirche - für jeden einzelnen Menschen, die Gesellschaft und den Klimaschutz. Für die Vermittlung der biblischen Botschaft und der kirchlichen Positionen in die breite Öffentlichkeit nutzt der Bischof die verschiedensten Kanäle und ist auch digital unterwegs.
20.07.2021
epd
Interview: Roland Gertz und Achim Schmid

Als mediale Person kommunizieren Sie auch über Facebook. Es scheint, dass es dabei eine Verschiebung weg von kritischen, aktuellen Themen gegeben hat?

Heinrich Bedford-Strohm: Die Möglichkeit, über Social Media zu kommunizieren, nehme ich gerne wahr. Mein Fokus hat sich dabei grundsätzlich auch nicht geändert. Es hat sich vielmehr anlassbezogen während der Pandemie der Schwerpunkt etwas verlagert. Vor allem mit meinen Morgenvideos wollte ich den Menschen ein stärkendes Wort zusprechen. Deshalb habe ich beispielweise viele Mut machende Konfirmationssprüche ausgelegt, die mir zugesandt wurden. Die Sondersendungen und Zeitungsschlagzeilen stellten Politik und virologische Inzidenzwerte in den Mittelpunkt. Mir ging es vor allem um die "seelischen Inzidenzen" und darum, was die Pandemie mit den Gefühlen der Menschen macht. Das zu thematisieren, sehe ich als ganz wesentlichen Beitrag der Kirche, auch wenn er in der öffentlichen Diskussion viel zu wenig vorkam.

Sie nutzen aber auch die großen Gottesdienste für politische Aussagen. An Pfingsten haben Sie deutlich gemahnt, dass die Corona-Krise zu einer Neuorientierung führen müsse, zu mehr Nachhaltigkeit, einer stärkeren Beachtung der Umwelt, einem neuen sozialen Gemeinwesen. Haben Sie da noch Hoffnung?

Bedford-Strohm: Auf jeden Fall! Diese Themen sind Langzeitthemen, die sich nicht von einem Jahr zum anderen lösen lassen. Sie müssen aber noch viel deutlicher auf den Tisch und viel schneller vorangetrieben werden. Ich erwarte von allen politisch Verantwortlichen, dass sie sich vor allem dem Mega-Thema Klimawandel stellen. Dabei dürfen Zukunftsinvestitionen für die Umwelt nicht an Geldmangel scheitern. Denn dann würden die Probleme nur auf die nächsten Generationen verschoben, was dann noch mehr kostet und ethisch absolut unverantwortlich ist.

Außerdem müssen wir dringend den Blick in die ärmeren Regionen der Welt lenken. Dort leiden bereits jetzt Menschen ganz massiv durch den hauptsächlich von wohlhabenden Ländern verursachten Klimawandel. Deshalb dürfen die Zukunftsinvestitionen nicht durch eine Schuldenbremse verzögert werden. So stellt sich die Frage, wie sich die Finanzierung der dringend nötigen Vorhaben in unserem Land organisieren lässt. Wenn nicht über Schulden, muss diese Finanzierung aus den jetzt vorhandenen Ressourcen laufen. Das sollte sich doch in einem Land, in dem allein das private Geldvermögen bei rund 6,8 Billionen Euro liegt, bewerkstelligen lassen. Deshalb erwarte ich in dieser Frage von der Politik valide Konzepte.

"Es ist nicht unsere Aufgabe, Parteiprogrammen einen Heiligenschein zugeben"

Beim Klimaschutz wollte die bayerische Landeskirche Vorreiterin sein und hatte sich eine 40-prozentige Reduzierung des CO2-Ausstoßes zum Ziel gesetzt. Müsste da nicht noch viel mehr passieren?

Bedford-Strohm: Keine Frage, wir sind noch nicht gut genug. Die Klimafrage müssen wir mehr ins Zentrum rücken, auch in den Gemeinden. Denn auch für sie gilt das Argument, dass energetische Investitionen immer teurer werden, je weiter sie auf später verschoben werden. Als Landeskirche müssen wir sehen, wo wir - beispielsweise mit Programmen - helfen können. Allerdings können Institutionen, Organisationen oder Einzelpersonen diese Aufgabe nicht selbst stemmen, sondern brauchen dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen.

Wenn die Politik die Rahmenbedingungen vorgibt, müsste Ihr Plädoyer für mehr Klimaschutz dann nicht in eine konkrete Empfehlung des EKD-Ratsvorsitzenden bei der Bundestagswahl münden?

Bedford-Strohm: Unsere Aufgabe ist es sicherlich nicht, bestimmten Parteiprogrammen einen Heiligenschein zu geben. Allerdings wird der Ratsvorsitzende und Landesbischof weiterhin klare Eckpunkte inhaltlicher Art geben. Denn der christliche Glaube hat etwas mit Weltgestaltung zu tun. Es ist nicht egal, ob jemand rücksichtslos lebt, oder auch seine Mitmenschen und die nachfolgenden Generationen im Blick hat. Das gilt beispielsweise jetzt schon für die Verteilung der Impfstoffe gegen Corona. Die Menschen in Afrika sind verzweifelt, weil sie - im Gegensatz zu den reicheren Ländern - kaum Impfstoff bekommen. Das hat nicht nur eine immense politische Dimension, sondern ist auch ein ethisch relevantes Thema.

"Ich wünsche mir mehr Großzügigkeit und Pragmatismus bei der Migration"

Auch in der Flüchtlingsfrage haben wir klare Grundpositionen, deren konkrete Konsequenzen natürlich ergebnisoffen diskutiert werden müssen. Wir sollten endlich begreifen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, und das ist auch gut so. Es ist im übrigen auch in unserem Eigeninteresse, weil wir in vielen relevanten Branchen dringend Arbeitskräfte benötigen - beispielsweise im Bau, bei der für den ökologischen Umbau notwendigen energetischen Gebäudesanierung oder im Pflegebereich. Ich kann daher nicht verstehen, dass gut integrierte Flüchtlinge mit guten Deutschkenntnissen abgeschoben werden, dass wir sie in ihre Länder zurückschicken, aus denen wir dann wieder Pflegepersonal anwerben.

Nötig ist in bestimmten Fällen ein "Pfadwechsel", der ermöglicht, dass bei gut integrierten Asylsuchenden aus dem Asylverfahren eine geregelte Einwanderung werden kann. Für viele Politiker ist dieser Wechsel immer noch ein rotes Tuch, weil sie befürchten, dass die Unterscheidung zwischen Asylverfahren und Einwanderung nicht mehr klar gezogen werden kann. Ich sehe diesen Punkt. Das sollte aber nicht zu einem Dogma werden. Ich wünsche mir in dieser Frage mehr Großzügigkeit und Pragmatismus, auch in unserem eigenen Interesse.

Als EKD-Ratsvorsitzender verstehen Sie sich in erster Linie als Impulsgeber und Inspirator. Was ist Ihnen dabei gut gelungen?

Bedford-Strohm: Als sehr geglückt empfinde ich das große Reformationsjubiläum 2017. Denn wir wollten das Jahrhundertjubiläum der Reformation nicht dadurch feiern, dass wir unsere protestantische Identität durch Abwertung anderer Konfessionen wie der katholischen Kirche stärken. Stattdessen haben wir das Kernanliegen Martin Luthers, Jesus Christus neu zu entdecken, in den Mittelpunkt gestellt und dazu auch die katholischen Geschwister eingeladen. Die Rückbesinnung auf Christus kann nur in der ökumenischen Zusammenarbeit geschehen. Dieser ökumenische Fortschritt ist trotz aller immer wieder aufgebauten Hindernisse nicht mehr rückholbar.

"Es gibt viel positive Rückmeldung, dass die Kirche endlich aktiv geworden sei und nicht nur rede"

Geglückt ist auch eine bessere Einbindung junger Menschen in die Kirche, was für mich ein Herzensanliegen war und ist. Früher war der Leitgedanke, dass "die Kirche" mit "den jungen Leuten" reden müsse - ein absurder Wortgebrauch, als ob die Jungen nicht Teil der Kirche wären. Jetzt sind sie mittendrin, haben volles Stimmrecht in der bayerischen Landessynode, geben höchst wirksame Impulse, und an der Spitze der EKD-Synode steht als Präses eine 25-jährige Studentin.

Als Erfolg sehe ich außerdem, dass wir Akzente bei humanitären Themen setzen konnten, wie bei unserem Einsatz für Flüchtlinge und der Seenotrettung. Zwar gab es deswegen auch Kritik und Kirchenaustritte, aber vor allem von jungen Leuten auch viel positive Rückmeldung, dass die Kirche endlich aktiv geworden sei und nicht nur rede, sondern auch handele.

Ein schwieriges Feld ist und bleibt aber wohl weiterhin die Aufarbeitung von Missbrauch und sexualisierter Gewalt.

Bedford-Strohm: Dieses furchtbare Thema bewegt uns alle zutiefst, weil es echte Abgründe sichtbar macht. Ich selbst habe von Opfern konkrete Erfahrungen gehört, bei denen es unfassbar ist, dass sie im Raum der Kirche geschehen konnten. Es ist richtig, dass die Kirche unter den vielen anderen ebenfalls betroffenen Institutionen wie Sportverbänden oder Schulen ganz besonders im Fokus steht, weil bei ihr die moralische Fallhöhe am größten ist. Es ist von ungeheurem Zynismus, wenn beispielsweise ein Pfarrer die Liebe Gottes predigt und gleichzeitig die Seelen von Menschen zerstört.

"Ich bin offen für Vereinbarungen mit dem Missbrauchsbeauftragten oder die Beteiligung von unabhängigen Wahrheitskommissionen"

Wir sind mit viel gutem Willen an die Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt herangegangen. Allerdings haben wir auch Lernerfahrungen gemacht. Dazu gehört, dass die Aufarbeitung nur durch Hilfe von außen gelingen kann, denn das Vertrauen vieler Betroffener in die Institution Kirche ist verständlicherweise zerstört. Nur ein Ergebnis, dass mithilfe außerkirchlicher Strukturen und Verfahren zustande kommt, hat überhaupt eine Chance auf Akzeptanz bei den Betroffenen. Deshalb bin ich ganz offen für Vereinbarungen mit dem staatlichen Missbrauchsbeauftragten, einer Beteiligung des Parlaments oder unabhängigen Wahrheitskommissionen. Wir haben nichts zu verbergen. Weil die Wunden aber so tief sind, wird uns dieses bedrängende Thema noch lange begleiten.

Die nötige Aufarbeitung des Missbrauchs bindet viel Energie und Ressourcen in der Kirche. Hat sie noch genug Kraft für die großen gesellschaftlichen Aufgaben, die Sie beschrieben haben?

Bedford-Strohm: Die Aufarbeitung ist nötig. Und sie verdient, dass wir ihr viel Energie widmen. Aber es ist klar, dass wir neben dem selbstkritischen Blick auf uns selbst auch Orientierung bei den großen politischen Fragen in der Welt zu geben haben. Und zugleich müssen wir die Kirche so umbauen, dass wir mit weniger Mitteln und weniger Personal ausstrahlungsstarke Kirche Jesu Christi sind. Als Landesbischof will ich dafür werben, dass wir uns alle gemeinsam auf diesen schwierigen Weg machen, der auch schmerzhafte Abschiede mit sich bringen wird.

"Wir stellen mehr Mitarbeitende ein, was eine gute Investition in die Zukunft ist"

Dieser Umbau soll im Rahmen des Reformprozesse "Profil und Konzentration" (PuK) vonstatten gehen. Was sind die nächsten konkreten Schritte?

Bedford-Strohm: Wir sind bereits mitten in diesem Prozess. Bei den letzten Sitzungen der Personalkommission, die über die Besetzung von Pfarrstellen entscheidet, kam es bereits zu vermehrten berufsübergreifenden Besetzungen, bei denen etwa auch ein Diakon oder eine Diakonin mit einer Pfarrstelle betraut wird. Das zeigt unsere wachsende Flexibilität, aber auch den großen Wert unterschiedlicher beruflicher Qualifikationen und ihrer Einsatzmöglichkeiten, gerade wenn der Nachwuchs zurückgeht.

Müsste dieser Prozess angesichts der zurückgehenden Zahlen nicht viel schneller laufen?

Bedford-Strohm: Wir sind schon beschleunigt unterwegs. Der Scheitelpunkt werden die Jahre ab 2027 sein, in denen wir deutlich weniger Pfarrerinnen und Pfarrer haben werden, weil dann die Zahl der Pensionierungen ihren Höhepunkt erreicht haben wird. Bis dahin stellen wir mehr Mitarbeitende ein, als wir gegenwärtig bezahlen können, was aber eine gute Investition in die Zukunft ist. Denn wir werden sie später, wenn die Zahlen deutlich zurückgehen, dringend brauchen.

Die kontroverse Debatte um eine gendergerechte, diskriminierungsfreie Sprache hat auch die Kirche und ihre Gemeinden erreicht. Kann das zu einer immer größeren Segmentierung in kleine Gruppen führen?

Bedford-Strohm: Diese Gefahr sehe ich so nicht. Es kommt darauf an, wie man damit umgeht. Denn der Sinn inklusiver Sprache ist es gerade nicht, die Segmentierung voranzutreiben, sondern Menschen, die sprachlich bisher ausgeschlossen waren, mit einzuschließen in die Gemeinschaft. Durch die Sprache kam bisher immer wieder die mangelnde Teilhabe von Frauen zum Ausdruck. Für mich ist die Formulierung "Pfarrer und Pfarrerinnen" völlig selbstverständlich geworden, weil ich sonst die Frauen sprachlich vermissen würde. Man gewöhnt sich mit der Zeit an neue Sprachformen - jeder und jede sollte also auch neue Formen ausprobieren. Auch ich mache Versuche mit dem Sternchen, das mir noch etwas ungewohnt ist, oder Schrägstrichen. Ich rate da zu einer größeren Gelassenheit, davon geht die Welt nicht unter.

"Wir sollten uns fragen, wie Führungspositionen familienfreundlicher gestaltet werden können"

Auch in kirchlichen Führungspositionen sind Frauen häufig unterrepräsentiert. Braucht es eine Quote?

Bedford-Strohm: Diese Frage beschäftigt mich schon seit dem Beginn meiner Amtszeit als Landesbischof. Dabei zeigte sich, dass das Problem nicht die klassischen Männerseilschaften sind, sondern dass sich nicht genügend Frauen bewerben. Dabei haben - wie eine Auswertung ergeben hat - Frauen, die sich beispielsweise auf eine Dekansstelle bewerben, eine 50-Prozent höhere Wahrscheinlichkeit - im Vergleich zu männlichen Bewerbern - den Job auch zu bekommen. Es kann aber vorkommen, dass sich für Spitzenpositionen keine einzige Frau bewirbt. Während es für Männer, die mehrere Kinder haben, offensichtlich überhaupt kein Problem ist, sich auf ein zeitintensives Führungsamt zu bewerben, scheuen Frauen in genau derselben Situation diesen Schritt. Das Problem liegt also tiefer. Wir sollten uns fragen, wie Führungspositionen familienfreundlicher gestaltet werden können, wie sich Mann und Frau die Familien-Arbeit aufteilen. Aber auch die Perspektive, Leitung kooperativ und gabenorientiert genauso in Teams zu gestalten, wie wir es auf allen anderen Ebenen in Zukunft tun müssen, wird die Attraktivität solcher Ämter für Frauen erhöhen.

Was werden Sie nach dem Ende Ihrer Amtszeit als EKD-Ratsvorsitzender vor allem vermissen?

Bedford-Strohm: Zunächst freue ich mich, dass ich dann noch zwei Jahre lang mit voller Leidenschaft als bayerischer Landesbischof die nötigen kirchlichen Veränderungsprozesse voranbringen kann. Vermissen werde ich viele Menschen, mit denen ich vertrauensvoll und freundschaftlich zusammengearbeitet habe. Den Rat der EKD habe ich als eine wirkliche Gemeinschaft ohne Grabenkämpfe erlebt. Vermissen werde ich auch die weltweiten Kontakte auf EKD-Ebene. Es war eine beglückende Erfahrung, dass wir eine Weltkirche sind, dass wir uns auf der Grundlage unseres gemeinsamen Glaubens auch über Kontinente hinweg verständigen können. Glücklicherweise werde ich ja auch als Landesbischof weiter intensiv unsere internationalen ökumenischen Kontakte pflegen.