Kyrills Rhetorik erinnert an deutsche "Kriegstheologie"

Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.
© epd-bild/Wassili Djatschkow
Patriarch Kyrill I. interpretiert den Krieg als Teil der Heilsgeschichte.
Theologe zieht historische Parallele
Kyrills Rhetorik erinnert an deutsche "Kriegstheologie"
Die Predigten des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. ähneln dem Theologen und Autor Friedrich Erich Dobberahn zufolge der "Kriegstheologie" in Deutschland in den beiden Weltkriegen. Für eine patriotische Kriegsbegeisterung sei die biblische Botschaft massiv verfälscht worden, sagt der frühere Leiter des Missionsseminars des Evangelisch-Lutherischen Missionswerkes in Niedersachsen, der gerade eine aktualisierte Ausgabe seines Buches "Deutsche Theologie im Dienste der Kriegspropaganda" veröffentlicht hat, im Interview dem Evangelischen Pressedienst. Mit Blick auf den Ukraine-Krieg sollten die Kirchen heute der Friedensbotschaft des Evangeliums verpflichtet bleiben.

Das Thema "Theologie im Dienste der Kriegspropaganda", mit dem Sie sich beschäftigt haben, hat im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine neue Aktualität erhalten.

Friedrich Erich Dobberahn: Ja, die gerade erschienene zweite Auflage meines Buches enthält aus aktuellem Anlass ein zusätzliches Kapitel, in welchem ich auf die Kriegstheologie des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I., Bezug nehme. Die Kriegspredigt des Patriarchen vom 6. März in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale zeigt ein kriegstheologisches Denkschema, das sich in zwei grundsätzlichen Aussagen nicht von dem deutschen kriegstheologischen Paradigma von 1914 bis 1918 und dem der "Deutschen Christen" 1939 bis 1945 unterscheidet.

Welche sind das?

Dobberahn: Zum einen handelt es sich um das, was ich als die "theologische Ursünde" des Christentums bezeichne: um die Nationalisierung der universalen Christus-Botschaft. Das ist die Behauptung, dass Gott als Verbündeter exklusiv auf der Seite eines einzigen Volkes steht. Zum zweiten geht es um die den Soldaten der jeweiligen Nation zugesprochene Kreuzfahrerformel von 1099, nach welcher der Krieg Ausdruck eines im Jenseits schon ausgefochtenen Krieges sei und die Kämpfer Streiter Christi seien. Hier wird den Soldaten gesagt, dass sie - auch mit allen ihren im Krieg begangenen Gräueln und Grausamkeiten - Teil der universalen Heilsgeschichte sind. Die von ihnen Erschlagenen sind demzufolge "Gottes Erschlagene".

Wie machte sich die Kriegspropaganda im Kirchenalltag in Deutschland bemerkbar?

Dobberahn: Ich habe anhand vieler Textzeugnisse aus Kriegspredigten, Kriegsliturgien, kriegstheologisch verfremdeten Gesangbuch-Liedern und Neudichtungen, sowie aus Beispielen der Religionspädagogik beschrieben, wie das Barbarische, das Widerwärtige, das Unethische des Krieges, das damals jeder human empfindende und denkende Mensch verabscheuen musste, als Gottes Wille gerechtfertigt und geschönt wurde. Der Krieg, die Außer-Kraft-Setzung des fünften Gebotes "Du sollst nicht töten", wurde zur Heilsnotwendigkeit für die Erlösung der Welt erklärt.

Der Autor Friedrich Erich Dobberahn appelliert an die Kirchen, der Friedensbotschaft des Evangeliums verpflichtet zu bleiben

Wie sahen die Umdeutungen der biblischen Botschaft konkret aus?

Dobberahn: In den beiden Weltkriegen stilisierten die Theologen beider großen Kirchen das deutsche Volk zu einer von Gott berufenen endzeitlichen Erlösernation empor. Die Feinde Deutschlands galten als die Feinde Gottes, als Kreaturen des Satans und mussten vernichtet werden. In Predigtgottesdiensten wurden diejenigen Bibeltexte, die gegen den Krieg und für den Frieden sprachen, systematisch zerstückelt und umgedeutet. Gesangbuch-Lieder wurden massiv kriegerisch umgedichtet. Die Liturgie mit ihren gottesdienstlichen Formeln und Gebeten wurde zu "Kriegsagenden" umgearbeitet.

Theologie im Dienste des Krieges fand sich nicht nur in den Gottesdiensten?

Dobberahn: Sie fand sich in der ganzen Breite des Gemeindelebens - also auch in der Seelsorge und Religionspädagogik. Überall, wo "Kirche" stattfand, auch an den Universitäten, vermischte und verfälschte sie die Inhalte der biblischen Verkündigung mit genuin deutschen Traditionen von völkischen, voraufklärerischen Ursprungsmythen, von einer die Welt im Auftrag Gottes rettenden Sendung alles Deutschen, von Rasse-Reinheit und Selbstopfermut in der Nachfolge Christi.

"Putin, seine Generäle und Soldaten treten in den Dienst der Heilsmacht Gottes."

Deutschland wurde an die Stelle des von Gott auserwählten Gottesvolkes Israel gerückt. Die deutsche Kriegstheologie schuf so in ihrem aggressiven darwinistisch-metaphysischen Vortrefflichkeitswahn eine der größten und verderblichsten politischen Mythen des 20. Jahrhunderts, der 1945 nicht zufällig im ethischen Nullpunkt der Gaskammern endete.

Ähnliche Erscheinungen sehen Sie auch hinter den Predigten Kyrills I. und im Schulterschluss Putins mit der russisch-orthodoxen Kirche?

Dobberahn: So ist es. Das augenblickliche Kriegsgeschehen gilt auch hier als Ausläufer des im Himmel bereits ausgefochtenen Sieges der guten gegen die bösen Mächte. Der Zeitpunkt der Welterlösung von Tod und Teufel ist in die gegenwärtige Geschichte Russlands verlegt. Erweckt und aufgeladen von der Kraft Gottes, die sich schon im österlichen Sieg Christi geoffenbart hat, tritt nun die Erlöser-Nation, Russland, treten Putin, seine Generäle und Soldaten in den Dienst der universalen Heilsmacht Gottes.

Was bedeutet das für die Soldaten?

Dobberahn: Die russischen Truppen verrichten nach dieser Interpretation ihren Waffendienst auf Geheiß des auferstandenen Christus. Sie vollstrecken in ihrem Strafamt ein "gerechtes Gericht" an den Feinden Gottes, indem sie auf Befehl Putins in der Ukraine gegen das angebliche Teufelswerk der Homosexualität, des Völkermords an den Russen und des Neo-Nazismus ihre "heilige Spezialoperation" durchführen. Untermauert werden solche Behauptungen dann genauso wie 1914 und 1945 mit nationalistischen Mythen und Philosophien. Kyrill I., der früher ein Mitarbeiter des Geheimdienstes KGB war, hatte Putin schon 2012 im Syrien-Krieg als "Gesandten Gottes" ausgerufen.

"Statt 'Du sollst nicht töten' hieß es: 'Du musst gut zielen, damit du triffst"

Gab es in Ihrer Recherche über die Theologie in den beiden Weltkriegen auch Erkenntnisse, die Sie überrascht haben?

Dobberahn: Das war zunächst die Enttäuschung darüber, wie wenige Theologen Deutschlands sich gegen die "Bibelfälschung", wie es Kurt Tucholsky bezeichnete, gewehrt haben. Sie wurden von der großen Masse der Kriegstheologen als "Friedenshetzer" überschrien, was ich in meinem Buch dokumentiere. Die zweite Überraschung für mich war die überragende Bedeutung des fünften Gebotes im Kirchenvolk. Die Menschen hatten von klein auf gelernt: "Du sollst nicht töten". Plötzlich hieß es dann aber an der Front aus Theologenmund: "Du musst gut zielen, damit du triffst."

Wie wurde das vom Kirchenvolk aufgenommen?

Dobberahn: Man verachtete die Kriegsprediger dafür, dass jetzt ein anderes Gebot "Du sollst töten" zum gespenstischen Leitsatz "im Katechismus der neuen Zeit" geworden war. Das fünfte Gebot erwies sich jedoch als unverrückbarer Fundamentalsatz der christlichen Anti-Kriegs-Ethik. Letztlich verhinderte dies, dass sich die Kriegstheologie im Kirchenvolk an der Front und in der Heimat durchsetzte.

Was sind die Lehren für die Kirchen mit Blick auf den aktuellen Angriffskrieg auf die Ukraine?

Dobberahn: Westliche Theologen sollten sich davor hüten - selbst wenn sie meinen, diesmal auf der "richtigen" Seite zu stehen - nun ihrerseits den bewaffneten Kampf der Ukrainer religiös, metaphysisch zu unterstützen und damit ebenso in eine Kriegstheologie hineinzuschlittern. Die Kirche darf sich von ihren Glaubenskriterien her nicht verpflichten lassen, sich denen anzuschließen, für die der Krieg noch ein politisches Mittel ist, um nationale Sicherheit oder machtpolitische Ziele zu erreichen. Pflicht aller Theologie ist nicht religiöses Waffenfieber, sondern der Ruf zur Buße. Auch dieser Aussage widme ich eine ausführliche Erörterung.

Buchtipp: Friedrich Erich Dobberahn: "Deutsche Theologie im Dienste der Kriegspropaganda: Umdeutung von Bibel, Gesangbuch und Liturgie 1914-1918", mit einem Geleitwort von Günter Brakelmann, zweite, durchgesehene und (um einen Exkurs zum Krieg in der Ukraine) ergänzte Auflage, Brill-Deutschland / Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, November 2022, 1.311 Seiten, 75 Euro, ISBN 978-3-525-56524-7