Kann eine Lüge moralisch gerechtfertigt sein?

Frau schwört mit gekreuzten Fingern
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Ob man moralisch immer zur Wahrheit verpflichtet sei, ist eine klassische Frage der Ethik. Alexander Maßmann regt zum Nachdenken an.
Kolumne: Evangelisch kontrovers
Kann eine Lüge moralisch gerechtfertigt sein?
Ist man moralisch immer zur Wahrheit verpflichtet? So fragte sich auch Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis, was es für ihn bedeuten würde, im Verhör durch einen Nazi-Haftrichter die Wahrheit zu sagen. Die Aktualität des Themas zeigt sich auch darin, dass in den USA das Wort "gaslighting" – psychologische Manipulation durch plumpe Lügen – zum Wort des Jahres gekürt wurde. Was hat es aus der Sicht der Ethik mit Wahrheit und Lüge auf sich?

Dietrich Bonhoeffer, Theologe und Widerstandskämpfer, fragte sich nach seiner Verhaftung durch die Nazis, ob er im Verhör durch den Haftrichter seine verschwörerischen Tätigkeiten leugnen sollte. Oder war er in dem Sinne zur Wahrheit verpflichtet, dass er die Karten hätte offenlegen müssen? Damit hätte er allerdings sich selbst und seine Mitverschwörer in äußerste Gefahr gebracht. 

Ob man moralisch immer zur Wahrheit verpflichtet sei, ist eine klassische Frage der Ethik. Ein weiteres Beispiel ist etwa die Höflichkeitslüge: "Nein, nein, dein neuer Haarschnitt ist sehr schick!" Also: Was hat es aus der Sicht der Ethik mit der Wahrheit auf sich?

Sagen, was der Fall ist?

Eine einflussreiche christliche Position lautet, dass die Lüge gegen Gott selbst gerichtet ist: Gott kann nicht lügen, und so hat die Falschheit keinen Raum in der Schöpfung. Lügen sind durch nichts zu entschuldigen. 

Bonhoeffer beantwortet die Frage in einem Aufsatz  anders. Ein Lehrer fragt ein Schulkind vor versammelter Klasse, ob es wahr sei, dass sein Vater oft betrunken nach Hause kommt. Das traditionelle Verständnis von Wahrheit besagt, dass das Kind moralisch verpflichtet sei zu sagen, was den Fakten entspricht. Damit hätte der Lehrer das Kind vor der Klasse bloßgestellt.

Doch weshalb sollte der Lehrer dazu berechtigt sein, in die internen Angelegenheiten der Familie einzudringen? Das Kind verneint die Frage und macht eine Falschaussage. Doch laut Bonhoeffer wahrt die Falschaussage, was moralisch wichtiger ist als das Interesse des Lehrers: den geschützten Raum der Familie.

Die Karten offen legen muss man nur gegenüber dem, der ein Recht darauf hat. Hätte Bonhoeffer gegenüber dem Nazi-Haftrichter die Umsturzpläne zugegeben, hätte er nicht einmal im vollen Sinne die Wahrheit gesagt. Denn welches Recht sollten die Nazis auf ein so hohes Gut wie die Wahrheit haben? Schließlich sabotieren sie Recht und Wahrheit prinzipiell. 

Ist Wahrheit das, was der Fall sein soll?

Daraus folgern manche, dass sich die Bedeutung des Wortes Wahrheit ändern müsse: Es gehe nicht darum, die Realität nach bestem Wissen wiederzugeben, sondern darum, strategisch so zu sprechen, dass letztlich das beste Resultat herauskommt. Der Zweck heilige die Mittel. "Wahr" wäre dann die Auskunft des Schulkindes, weil es die Bloßstellung vermeidet. Dabei geht es keineswegs um den je eigenen Vorteil, sondern (etwa in einem "christlichen Utilitarismus") darum, was dem Nächsten dient. Wahr ist nicht, was der Fall ist, sondern wahr ist eine Aussage, die anstrebt, was in Zukunft der Fall sein soll.

So weit geht Bonhoeffer allerdings nicht. Zwar ist für ihn der einzige gangbare Weg, im Verhör sein Handeln gegen die Nazis zu bestreiten. Dennoch ist das für ihn keineswegs eine ethisch unproblematische Aussage. Zwar würde er damit sich und seine Mitverschwörer schützen. Doch zugleich würde er die Nazis in ihrem Glauben bestärken, sie hätten ein Recht auf seine Loyalität. Grobes Unrecht bliebe unwidersprochen. Für den Widerstand gegen die Nazis hatte Bonhoeffer gute Gründe, doch sagen kann er diese Wahrheit im Verhör nicht. Mit dieser Schwierigkeit bleibt er konfrontiert.

Die Wahrheit ist die Wirklichkeit "in Christus"

Die Wahrheit zu sagen bedeutet für Bonhoeffer, die Dinge so auszusprechen, wie sie "in Christus sind", also wie sie mit Christi Kreuz und Auferstehung wirklich sind. Das schließt zwei Dinge ein, die sich manchmal widersprechen können. Zunächst: Der Gott, der die Wahrheit gebietet, fordert unsere konkrete Verantwortung in den Situationen, in die wir gestellt sind. Wahrheit ist etwas Praktisches. Dass Bonhoeffer sich und die Mitverschwörer nicht ans Messer liefert und sinnlose Gewalt vermeidet, ist ein wesentlicher Schritt zur Wahrheit. Das Motto "es geschehe Gerechtigkeit, und wenn die Welt zugrunde geht" ist dagegen kein christliches Verständnis der Wahrheit, sondern ihr abstraktes Missverständnis.

Das macht aber zweitens Bonhoeffers Falschaussage im Verhör noch nicht zur Wahrheit. Zur Wahrheit gehört es auch, die Wirklichkeit der Erfahrung transparent zum Ausdruck zu bringen. Bonhoeffer fürchtet, dass sich bei wiederholter Falschaussage "der Begriff der Wahrheit gänzlich auflöst". Beides zusammen macht die Wahrheit aus, praktische Verantwortung und Transparenz. Hier ließe sich an das Wort Jesu erinnern: "Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben" (Matthäus 10,16). In Extremsituationen wird es damit allerdings schwer oder unmöglich, die Wahrheit zu sagen.

Weshalb auf Transparenz beharren?

Dem Common Sense bereitet es Schwierigkeiten, dass etwas moralisch verlangt wird, das unter Umständen unmöglich ist. Dagegen scheint doch kein Unrecht zu geschehen, wenn man mit einer Falschaussage grobes Unrecht abwehrt. Weshalb sollte der Moral nicht schon damit Genüge getan sein, dass man unter dem Namen der Wahrheit auch das fasst, was pragmatisch das Beste aus der Situation macht? 

Die Wahrheit im Sinne der Transparenz, das Aussprechen der Fakten, aufzugeben ist uns nicht möglich. Daran hält Bonhoeffer auch in seinem Aufsatz fest. An anderer Stelle fragt er sich, ob er, der im Widerstand gegen die Nazis die "Künste der Verstellung " gelernt hat, im moralischen Sinn überhaupt noch "brauchbar" ist. Hat ihn der Widerstand gegen die Nazis – in bitterer Ironie – korrumpiert?

Wenn die Lüge inflationär wird

Solche Überlegungen sind auch heute aktuell. Das Wort "postfaktisch" wurde 2016 zum Wort des Jahres gewählt. Darin zeigte sich, wie bei Trump und Putin die Lüge zur gewöhnlichen Rede gehört. Doch schon Barack Obama , ein respektabler Politiker ganz anderen Kalibers, kommt bei Fakten-Checkern auf einen Wert von weniger als 50% von öffentlichen Aussagen, die wahr oder überwiegend wahr sind. Die strategische Falschaussage kann leicht zur inflationären Lüge führen.

Auch Deutsche, denen vernünftige oder diskutable Ansichten nicht in den Kram passen, beschimpfen deren Vertreter als "Lügenpresse". Hier erschöpft sich die Bedeutung von Lüge und Wahrheit darin, dass die Sprechenden einer dumpfen Empörung Ausdruck verleihen. Um die eigentliche Frage von wahr oder unwahr geht es nicht mehr.

Hier sind Worte bloße Kampfbegriffe geworden, die keiner sachlichen Auseinandersetzung mehr dienen. Solche ideologischen Konflikte sind die Folge von inflationären Falschaussagen. In der Tat lässt sich eine kritische politische Öffentlichkeit effektiv untergraben, indem man "Bullshit " – unsinnige Behauptungen, auf deren Wahrheit es den Sprechenden nicht ankommt – als prominenten Bestandteil des öffentlichen Lebens etabliert. Was kommt es schon auf ein paar Lügen mehr oder weniger an? Am Montag erst wurde in den USA das Wort "gaslighting" zum Wort des Jahres  gekürt – also eine Manipulation durch plumpe Lügen, die schon an Gehirnwäsche grenzt. 

Menschen, die diese inflationären Unwahrheiten dulden, verabschieden sich von einem Gemeinwesen, in dem sie sich sachlich und kritisch als politisch mündige Bürger:innen betätigen können. Um sich gegen solche Entwicklungen zu wehren, ist das Verständnis von Wahrheit als dem, was der Erfahrung und der Wirklichkeit entspricht, unverzichtbar.

Schlussfolgerung

Zu sagen, was der Fall ist, ist oft moralische Pflicht. Um einen Bibelvers von der Liebe (1 Johannes 4:16) zu variieren: Gott ist die Wahrheit, und wer in der Wahrheit bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Um der Bequemlichkeit oder eines unlauteren Vorteils willen sind Lügen nicht gerechtfertigt. Ein leichtfertiger Umgang mit der Wahrheit ist persönlich wie politisch schädlich. 

Doch im Extremfall kann auch ein offenes Aussprechen dessen, was in unserer Erfahrung der Fall ist, besonders schlimme Konsequenzen haben – etwa in Bonhoeffers Verhör durch die Nazis. Dann kann der Wahrheit besser gedient sein, indem man sich nicht an das Vorfindlich-Faktische hält. Zum anderen Beispiel: Hat ein Freund einen unvorteilhaften Haarschnitt, kann ein vertrauliches, offenes Wort helfen. Doch je nach Umständen kann es auch unbarmherzig und lieblos sein und somit nicht die Wahrheit im eigentlichen Sinne, in Christus. 

In Ausnahmefällen kann es unmöglich sein, im Reden sowohl der praktischen Verantwortung gerecht zu werden als auch realitätsgetreu wiederzugeben, was der Fall ist. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, anerkennen, die am wenigsten schlechte Option wählen und Gottes Vergebung suchen.