Günter Grass: "Von den Roma lernen!"

Günter Grass: "Von den Roma lernen!"
Ein Plädoyer für das Gemeinsame: Nobelpreisträger Günter Grass widmet sich den zwanzig Millionen Sinti und Roma in Europa, über die seiner Ansicht nach noch immer viel zu wenig bekannt ist. In ihrer jahrhundertealten Tradition der Grenzüberschreitung erkennt er buchstäblich zukunftsweisendes Potenzial.
01.05.2010
Von Günter Grass

Die Roma sind wie kein anderes Volk, außer dem der Juden, anhaltender Verfolgung, Benachteiligung und der planmäßigen Vernichtung ausgesetzt gewesen. Dieses Unrecht hält bis heute an. Selbst als Opfer der verbrecherischen Rassenpolitik während der Zeit des Nationalsozialismus werden die Rama und mit ihnen die Sinti nur zögerlich anerkannt; während der Völkermord an den Juden, wenn auch gegen Widerstände, sich unserem Bewusstsein eingeprägt hat, wird die Vernichtung von mehreren hunderttausend, was heißt, ungezählten, "nichtlebenswerten Zigeunern" in den Vernichtungslagern Auschwitz-Birkenau, Sobibor, Treblinka und an vielen anderen Orten des Schreckens allenfalls beiläufig erwähnt. Es ist, als stünden das Volk der Roma und ihre Opfer noch immer unter dem Verdikt, einer minderwertigen Rasse anzugehören.

Sobald die Angehörigen dieses Volkes, das immerhin seit über sechshundert Jahren in Europa wenn schon nicht Heimat, dann doch vorübergehende Bleibe sucht, in unserer Nachbarschaft zur Ruhe kommen wollen, ist uns das "Zigeunerleben" nicht mehr "lustig". Dann soll "das fahrende Volk" sehen, wo es bleibt. Notfalls beruft man sich auf andere, gerade nach geduldete Ausländer, die ihrerseits unduldsam werden, sobald Zigeuner in Sicht sind.

Das Volk der Roma existiert jenseits aller fürsorglicher Obhut, erfährt nur selten Fürsprache und weiß keinen Staat zu nennen, der ihm unüberhörbar Stimme geben könnte.

Die größte Minderheit Europas ...

Die geschätzt zwanzig Millionen Angehörigen dieses Volkes bilden die größte und dennoch nicht ausreichend anerkannte Minderheit Europas. Woher rührt diese ungenaue Zahl? Wir, die wir alles genau wissen und bis hinterm Komma genau wissen wollen, wir, denen Statistiken und Börsennotizen das Morgen- und Abendgebet ersetzen, wir, die gelernten Zahlenfetischisten, sind, sobald wir Genaueres über das so zahlreiche Volk erfahren wollen, auf grobe Schätzungen angewiesen.

Es gibt Gründe für diese Ungenauigkeit. Ob hierzulande oder in Litauen, in Tschechien und der Slowakei, allerorts in Europa wagen es viele Roms und Sinti überhaupt nicht, sich kenntlich zu machen. Ihre Erfahrung weiß von Verletzungen, die ihnen und ihren Familien zugefügt wurden, als sie kenntlich, das heißt registriert waren.

... ist einerseits anwesend, andererseits nicht vorhanden

Ihre Sprache, Romani, ist nur ansatzweise verschriftlicht. Auch für diese Zurückhaltung gibt es Gründe: Die bloße mündliche Überlieferung der Muttersprache erleichtert das Überleben in einer anhaltend feindlichen Umwelt. Wer schriftlich nicht zu erfassen ist, der entzieht sich leichter seinen Verfolgern. In allen Ländern der Europäischen Union sind die Angehörigen dieser Minderheit einerseits anwesend, andererseits wie nicht vorhanden.

Wenig bis nichts geschieht, was ihre Bedürfnisse und Rechte als Bürger der jeweiligen Staaten sichern könnte. Viele von ihnen sind Flüchtlinge, Staatenlose, die nach Belieben abgeschoben werden, dorthin, wo sie nicht geduldet sind und abermals abgeschoben werden. Sie sind der blinde Fleck im Bewusstsein Europas. Zwar belächelt man sie und ihre Eigenart, will sie aber dennoch samt ihrer besonderen Existenz nicht wahrhaben. Hilfe wird ihnen allenfalls aus kleinem Mitleid als Almosen zuteil. Sie sind uns lästig. Sie sind das Fremde an sich.

Europäer par excellence

Sie, die Roma, in ihrem permanenten Zustand der Zerstreuung, sind - genau gesehen – Europäer in jenem Sinn, den wir, gefangen in der nationalen Enge, vor Augen haben sollten, wenn sich das vereinte Europa nicht zu einem bürokratisierten Verwaltungs- und übermächtigen Wirtschaftskoloss entwickeln soll. Zumindest dieses eine, ihre grenzüberschreitende Mobilität, haben uns die sogenannten Zigeuner voraus. Sie sollten sich zuallererst durch einen Europapass ausweisen dürfen, der ihnen von Rumänien bis Portugal das Bleiberecht garantiert.

Als geborene Europäer sind sie aus jahrhundertealter Erfahrung in der Lage, uns zu lehren, Grenzen zu überschreiten, mehr noch, die Grenzen in uns und um uns aufzuheben und ein nicht nur in Sonntagsreden behauptetes, sondern erwiesen grenzenloses Europa zu schaffen.


Günter Grass, Träger der Nobelpreises für Literatur, gilt als einer der berühmtesten lebenden Schriftsteller. Sein Text ist das Vorwort des Bildbands "Die Romareisen" von Cia Rinne und Joakim Eskildsen (Steidl Verlag 2007) und besteht aus Passagen der Rede "Wie ich zum Stifter wurde" zur Gründung der "Stiftung zugunsten des Romavolkes" in Lübeck, gehalten am 28.9.1997, sowie der Rede "Zukunftsmusik oder Der Mehlwurm spricht", gehalten am 19.10.2000 auf Einladung der Europäischen Investitionsbank in Bremen. Sie sind vollständig erschienen in dem Band "Ohne Stimme. Reden zugunsten des Volkes der Roma und Sinti", Steidl Verlag, Göttingen 2000.