Das Unaussprechliche zur Sprache bringen

Das Unaussprechliche zur Sprache bringen
An vielen christlichen und auch an anderen Schulen hat es Fälle sexuellen Missbrauchs gegeben. Wir sind entsetzt: Wie konnte es sein, dass darüber so lange geschwiegen wurde?
19.03.2010
Von Angelika Obert

"Weißt du, was Jesus aus deinem Leben machen kann? Er öffnet dir die Lippen und du sprichst aus, was keiner sagt." So heißt es in einem Ostergedicht des Theologen und Schriftstellers Lothar Zenetti (Lothar Zenetti, "Weißt du" in: "Leben liegt in der Luft", Worte der Hoffnung, Grünewald –Verlag, Ostfildern 2007). Als ich’s las, kam es mir doch wie frommer Schmus vor.

Dass einer ausspricht, was sonst keiner sagt – wann passiert das denn? Selbst in vertrauten Beziehungen gibt es Sprachtabus. Und gewiss sind Christinnen und Christen nicht redemutiger als andere Menschen. Im Gegenteil: Gerade, weil unsereins ja lieb sein will, bleibt die Kommunikation oft verhalten und das Unangenehme besser unter der Decke. Dazu gehörte lange auch alles, was mit Sexualität zu tun hat. Nun ist ans Licht gekommen, was in den letzten Jahrzehnten sogar an Straftaten unter der Decke blieb: An vielen christlichen und auch an anderen Schulen hat es Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen gegeben. Wir sind entsetzt: Wie konnte es sein, dass darüber so lange geschwiegen wurde?

Reden lohnt sich

Darüber kann man sich zu Recht empören – muss sich aber doch auch fragen, wie es um den eigenen Redemut bestellt ist: Mache ich immer den Mund auf, wenn sich meine Leute offenbar aufs Schweigen geeinigt haben? Gebietet es nicht auch die Vernunft, das eigene Nest zu schützen, zumal in einer Mediengesellschaft, wo man immer damit rechnen muss, dass die Wellen der Häme hochgehen, wenn ein Missstand bekannt wird? Auch der Leiter des Berliner Canisius-Kollegs Klaus Mertes wird gewusst haben, dass harte Zeiten auf seine Kirche zukommen, wenn er öffentlich über den sexuellen Missbrauch spricht, den es an seiner Schule gegeben hat. Er wird geahnt haben, dass die Journalisten alles ausgraben werden, was man zum Thema Kirche und Sex nur ausgraben kann. Dass sich viele empört von der Kirche abwenden werden. Dass der gute Ruf katholischer Schulen schwer ramponiert sein wird. Das alles wird er gewusst haben – und er hat’s trotzdem getan.

So kam die Debatte in Gang, die dafür gesorgt hat, dass nun endlich alle darüber nachdenken müssen, wie Kinder und Jugendliche vor den Übergriffen der Erwachsenen geschützt werden können. Es wird nach allem, was ans Tageslicht gekommen ist, wohl bessere Kontrollen geben, mehr Möglichkeiten für die Kinder, sich zu wehren, weniger Schutz für die Täter. Das Reden hat sich gelohnt. Und ich glaube Klaus Mertes, wenn er auf die Frage, ob er seiner Kirche nicht geschadet habe, einfach sagt: „Nein. So hätte doch Jesus auch agiert.“(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7.2.2010, Klaus Mertes im Interview mit Antje Schmelzer)

„Er öffnet dir die Lippen und du sprichst aus, was keiner sagt.“ Es ist doch nicht bloß frommer Schmus, denke ich jetzt. Es dauert zwar immer lange, aber wenn die Zeit reif ist, dann traut sich einer – und es kommt etwas Befreiendes in Gang. Es geht um die Opfer, hat Klaus Mertes betont, es geht darum, dass sie endlich sprechen dürfen. Denn das Furchtbare am sexuellen Missbrauch ist ja, dass er die Kinder in einem tiefen Sinn sprachlos macht – nicht nur, weil die Tabuschranken so hoch liegen, sondern auch, weil ein Kind einfach keine Worte finden kann für das, was geschieht, wenn es von einem Erwachsenen sexuell überwältigt wird.

Worte für das Unaussprechliche

Es war der Schriftsteller Bodo Kirchhoff, der es nun gewagt hat, dafür die Worte zu finden in einem anrührenden Text, den er Anfang dieser Woche veröffentlicht hat (Bodo Kirchhoff, Sprachloses Kind, Der Spiegel, 15.3.2010). Gleich hat man auch ihn als „Sexopfer“ durch die Medien gejagt – und hätte ihn doch als souveränen Befreier würdigen müssen, weil er das Unaussprechliche zur Sprache gebracht hat. Er hat sich zu Wort gemeldet, damit auch andere ihre Lippen öffnen können, Worte finden für das, was auszusprechen nicht erlaubt scheint – und er denkt dabei nicht nur an die Missbrauchsopfer. Es macht mir Mut, dass es Menschen gibt wie Bodo Kirchhoff und Klaus Mertes, die das Geschwätz nicht fürchten und einfach die Wahrheit sagen. Mir ist wieder klar geworden, wie wichtig es ist, dass wir uns gegenseitig das Sprechen ermöglichen, das Sagen der eigenen Wahrheit.
 


Die Morgenandacht von Pfarrerin Angelika Obert wurde am 19. März als Sendung der evangelischen Kirche im Deutschlandfunk gesendet. Morgenandachten aus den katholischen und evangelischen Kirchensendungen gibt es von Montag bis Samstag von 6.35 bis 6.40 Uhr.


Über die Autorin:

Angelika Obert wurde 1948 geboren. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie und der Germanistik besuchte sie eine Schauspielschule, bevor sie Pfarrerin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz  wurde.  Seit 1993 ist sie Rundfunk- und Filmbeauftragte ihrer Landeskirche. Sie ist für die evangelischen Hörfunk- und Fernsehsendungen beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) verantwortlich. Als Autorin gestaltet sie auch Sendungen für den Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur.