Es war Wahl und fast alle gingen hin - freiwillig

Es war Wahl und fast alle gingen hin - freiwillig
Am 18. März 1990 konnten die Menschen in der DDR erstmals ein überregionales Parlament frei wählen. 34 Parteien und Bewegungen bewarben sich um die Sitze der zehnten und letzten Volkskammer.
18.03.2010
Von Jutta Schütz und Axel Hofmann

Hoffnung und Enttäuschung lagen vor 20 Jahren dicht beieinander. Am 18. März 1990 strömten die DDR-Bürger in Massen in die Wahllokale - freiwillig. Die einen hofften vier Monate nach dem Mauerfall auf die schnelle D-Mark, die anderen auf Reformen. Rund 93 Prozent der Ostdeutschen gingen zur ersten freien Wahl der DDR-Volkskammer, dem überregionalen Parlament. Aus heutiger Sicht war das ein nie wieder erreichtes Traumergebnis.

"Wenn wir Kohl wählen, fließt das Geld"

Für die heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) - selber eine ehemalige DDR-Bürgerin - markiert der Wahltag "den endgültigen Sieg der friedlichen Revolution". Die hohe Wahlbeteiligung bezeichnete sie in ihrer jüngsten Videobotschaft als Zeichen, "dass die Menschen sich mit viel Begeisterung für eine der Parteien entschieden und damit der Demokratie ihre Stimme gaben". Vielleicht gingen auch so viele Menschen zur Wahl, weil nicht - wie in den Jahrzehnten zuvor - der Gewinner schon vorher feststand. Es war die Hoffnung, dass die eigene Stimme zählt.

Das Wahlergebnis überraschte dennoch. Entgegen allen Prognosen gewann die Allianz für Deutschland mit der Ost-CDU an der Spitze. Allein die ostdeutschen Christdemokraten kamen auf stattliche 40,8 Prozent. Etliche Bürgerrechtler und Protagonisten der friedlichen Revolution zeigten sich enttäuscht.

Der damalige Grünen-Politiker Otto Schily kommentierte das Wahlergebnis auf seine Art: Er hielt eine Banane in die Fernsehkameras. Der damalige SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine monierte, viele DDR-Bürger hätten wohl gemeint, "wenn wir Kohl wählen, fließt das Geld". In seinem Buch "Unsere Revolution" schreibt der frühere DDR-Oppositionelle Ehrhart Neubert rückblickend, der Mut der Bürgerrechtler sei nicht honoriert, ihre Politik der kritischen Annäherung abgewählt worden.

Motto: "Zuversicht, Augenmaß und soziale Verantwortung"

Wahlsieger Lothar de Maizière, bedächtiger und nachdenklicher Chef der Ost-CDU, wurde wenige Wochen später DDR-Ministerpräsident einer Koalitionsregierung aus Allianz, Ost-SPD und Liberalen. De Maizière war nicht nur erster frei gewählte DDR-Ministerpräsident, sondern auch zugleich derjenige, der sein eigenes Amt freiwillig abschaffte. Denn die Wahl vom 18. März sei eine Abstimmung für die schnelle Wiedervereinigung Deutschlands gewesen, sagt de Maizière heute. Er habe die Wahl als Auftrag verstanden. Für die neue Regierung gab er das Motto aus: "Zuversicht, Augenmaß und soziale Verantwortung."

Auf Augenhöhe und in Würde habe er die Ostdeutschen bis zur Wiedervereinigung führen wollen, sagt der Rechtsanwalt, der nach der Wende überraschend in die große Politik gespült wurde. "Plötzlich hatte ich 16 Millionen Mandanten. Das schwierigste war der Verantwortungsdruck." Nach seiner Wahl am 12. April 1990 begannen schnell die Verhandlungen mit der Bundesregierung über eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Am 3. Oktober 1990 wurde dann die deutsche Einheit wieder erreicht.

SED-Staatspartei war plötzlich Opposition

Die schnelle Wiedervereinigung sorgte aber auch dafür, dass die Arbeit der Volkskammer-Abgeordneten nach einem halben Jahr schon wieder zu Ende ging. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) bezeichnet es im Rückblick als außergewöhnlich, "dass ein Parlament sich konstituiert mit der selbst gesetzten Aufgabe, sich möglichst bald wieder aufzulösen".

Zum Wahlbündnis "Allianz für Deutschland" gehörten neben der DDR-CDU die neu gegründeten Gruppierungen Demokratischer Aufbruch (DA) und Deutsche Soziale Union (DSU). Zusammen kamen sie auf 48 Prozent der Stimmen. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) hatte für das Bündnis geworben. Die Robert-Havemann-Gesellschaft verwies jetzt in einer Diskussion auf einen anderen Aspekt: Verlierer der ersten freien Volkskammerwahl sei nach fast 40 Jahren an der Macht die in PDS umbenannte SED-Staatspartei gewesen. Sie erreichte nur noch 16,4 Prozent und war plötzlich Opposition.

Feierstunde im Bundestag

Neubert erinnert sich, dass damals auch offen blieb, wer eigentlich die Abgeordneten in der neuen Volkskammer waren. Der Fall von Wolfgang Schnur, Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs und kurz vor der Wahl als Inoffizieller Stasi-Mitarbeiter enttarnt, habe gezeigt, dass das "Diktaturpersonal" nicht verschwunden war. Eine Stasi-Überprüfung der neuen Volkskammer sei nach Querelen zwar durchgesetzt, das Ergebnis aber nicht veröffentlicht worden.

Zum 20. Jahrestag der Wahl gibt es am Donnerstag eine Feierstunde im Bundestag, zu der auch die damaligen Volkskammer-Abgeordneten eingeladen sind. Damit ihre Arbeit nicht in Vergessenheit gerät, gibt es auf der Internetseite des Bundestags künftig ein umfangreiches Online-Archiv mit Videomitschnitten sämtlicher Plenardebatten jener Monate. Am 2. Oktober 1990, dem Tag vor der deutschen Vereinigung, tagte die Volkskammer zum letzten Mal.

dpa