Chorprojekt "!Sing": Reaktivierung einer Alltagskultur

Chorprojekt "!Sing": Reaktivierung einer Alltagskultur
Chöre gelten als "out". Dabei kann gerade das Chorsingen der Vereinzelung junger Menschen entgegenwirken, sagen Experten. Das Projekt "!Sing" will nun die "Lust auf Chor" wecken. Zehntausende Sängerinnen und Sänger werden zum Finale am 5. Juni "auf Schalke" ein großes, mehrstimmiges Konzert geben.
11.03.2010
Von Ralf Siepmann

Sie singen auf Straßen, Plätzen und in Fußgängerzonen. Sie verwandeln Kirchen und Museen in Konzertpodien, ganze Krankenhausflure und Pflegestationen in Klangmeilen. Sie lassen Lieder am Tag und in der Nacht ertönen, in der Höhe monumentaler Industriebauten aus der einstigen Ära von Kohle und Stahl wie auch unter Tage, heutzutage vor allem U-Bahnschächten. Sie promenieren singend von Häfen zu Wochenmärkten und formieren sich zu einem vokalen Schiffscorso auf dem Rhein-Herne-Kanal. Das Finale soll furios werden.

Hunderte von Chören, zehntausende Sängerinnen und Sänger werden sich am 5. Juni "auf Schalke" zum größten mehrstimmigen Abschlusskonzert unserer Zeit vereinen. "!Sing – Eine Metropole singt" lautet das Motto des ambitiösen Chorprojekts im Rahmen des Kulturprogramms Ruhr2010. Es verspricht, für eine ganze Region Identität aufzubauen und – mehr noch - ein gesellschaftspolitisches Zeichen zu setzen.

53 Städte zwischen Unna und Moers machen das Ruhrgebiet aus, jene Region im Strukturwandel, die sich bis Ende des Jahres als "Kulturhauptstadt Europas" profilieren will. "!Sing" ist ein Ansatz, die naturgegebene Fragmentierung in einer einzigen, von vielen Menschen artikulierten Botschaft aufzuheben. "Unser wichtigstes Ziel", beschreibt Benedikte Baumann, "!Sing"-Projektleiterin im Essener Organisationsteam von Ruhr2010, die Intention, "ist es, Menschen dieser Region zu animieren, allein oder mit anderen die Stimme zu erheben und ihnen so ein Wir-Gefühl zu verschaffen".

Singen mit den Wise Guys

Das Konzept wird aufgehen. Laienchöre zwischen Hamm und Hamminkeln, Selm und Schwelm proben schon seit Monaten für "!Sing Europe", für den großen Auftritt am Abend des 5. Juni. "Day of Song"-Beauftragte in den 53 Städten sowie eine Reihe an Partnerorganisationen, darunter Chöre und Chororganisationen der Kirchen, haben intensiv für das Ereignis geworben.

5.000 Sängerinnen und Sänger finden im Innenraum der Gelsenkirchener Arena Platz. Allein 8.000 Anmeldungen sind für diesen besonders begehrten Raum bereits eingegangen. 233 Chöre aus dem Revier wollen bei der Verwirklichung eines vielseitigen Konzertprogramms von Oper bis Pop dabei sein, das Bobby McFerrin, die Wise Guys und andere Vokalstars als Zugpferde aufweist. Insgesamt 36.000 Tickets sind nach Angaben Baumanns für das finale Spektakel bereits verkauft.

Eine Region setzt auf Gesang, auf eine der Urformen des menschlichen Ausdrucks. Und viele wollen diesem Ruf folgen. Über 750 Chöre – aus dem Revier, aus den europäischen Partnerstädten sowie aus Nord- und Südamerika – haben nach dem aktuellen Stand zugesagt, sich an den unterschiedlichen Veranstaltungen und Spielarten des Projekts beteiligen zu wollen. "!Sing", erläutert Baumann, "steht für ein ganzes Netzwerk an Initiativen, Vermittlungsprojekten, Liederabenden, Musiktheateraufführungen und Chorkonzerten". Es erhelle die Ursprünge des Gesangs und stelle hochkulturelle Veranstaltungen neben Partizipations-Projekten. Letztlich will sich Ruhr2010 mit dem Projekt laut Website "zu einem Impulsgeber für eine Reaktivierung der Gesangskultur in Deutschland aufschwingen".

Mutiges Konzept

Gesellschaftspolitisch ist dieses Konzept nicht geringer als mutig zu nennen. Gerade in Deutschland ist das Chorsingen als selbstverständlicher Teil der Alltagskultur weithin auf dem Rückzug. In der Denaturierung des Chorgesangs zu einem Propagandainstrument durch die Nationalsozialisten sehen die "!Sing"-Initiatoren einen wesentlichen Grund für diesen Kulturbruch: "Dieser kollektive Überdruss an verordnetem Singen hat bei vielen Deutschen eine Abneigung gegen das Singen in Gemeinschaft lebendig gehalten." Bei den meisten jungen Leuten sind Chöre schlicht "out". TV-Egotrips vom Typ "Deutschland sucht den Superstar" befördern den Hang zur Individualisierung, der in vielen Fällen in der Isolation endet. Dabei, betont Baumann, wäre Chorsingen als Gemeinschaftsaktivität hervorragend geeignet, "der Vereinzelung unter jungen Menschen entgegenzuwirken".

"Extrem wichtig" nennt Peter Weigle, Leiter des Philharmonischen Chors Berlin, Gemeinschaftsverhalten und gemeinsames Singen. Es sei eine gesellschaftspolitische Aufgabe, unterstreicht der Rektor der Musikhochschule "Hans Eisler" in der Hauptstadt, "Chorsingen wieder in den Vordergrund zu rücken". Eigentlich, bringt er seine Auffassung auf den Punkt, sei Chorsingen eine ganzheitliche Bildung, die der Einzelne im Chor erfahre. Bedauerlicherweise werde dies in weiten Teilen des Landes nicht gesehen und nicht wirklich ernst genommen.

Geringe Wahrnehmung

Weigle wundert sich seit geraumer Zeit über die Kluft zwischen der Menge an Vokalensembles etwa in Berlin und ihrer allgemeinen Wahrnehmung. Seine Forderung: "Die Chöre müssen in die Öffentlichkeit drängen." Allerdings haben Chöre bei den Medien in Deutschland, gerade bei den Programmverantwortlichen im Fernsehen einen schweren Stand. Mit rasch geklebten Etiketten wie altbacken" oder "uncool" sind Sender und Produzenten zur Hand, wenn die Chancen von Chorformaten diskutiert werden. Dabei hat ZDFneo erst jüngst mit der Dokusoap "Der Straßenchor" unter Beweis gestellt, dass sich die Phantasien nicht in Produktionen wie "Straßen der Lieder" (ARD) oder "Grand prix der Chöre" (ZDF) erschöpfen müssen.

Die verbreitete Missachtung von Chören in Deutschland kann Günter Titsch, Präsident von Interkultur, ohnehin nicht nachvollziehen. Die im hessischen Pohlheim beheimatete Organisation ist Veranstalter der World Choir Games, des größten Chorwettbewerbs für Laienchöre weltweit. Er wird im Juli in Shaoxing/China zum sechsten Mal ausgerichtet. "Chorsingen", sagt Titsch, "ist in vielen Regionen auf der Welt im Aufwind, ist vielgestaltig, modern und auch für junge Leute ‚in’". "!Sing" hat mithin die Chance, zu einem Marketing-Projekt für das Genre schlechthin zu werden. Geht der Ehrgeiz einer ganzen Region auf, werden noch manche danach ein Lied davon singen wollen.

Link: Informationen zu Musik in der Evangelischen Kirche (u.a. Ausbildung, Verbände etc.) gibt es auf der Seite der EKD-Kulturbeauftragen. Informationen gibt es auch beim Verband Evangelischer Kirchenchöre.


Ralf Siepmann ist Fachjournalist und Medienberater. Er lebt und arbeitet in Bonn.