Medien und Skandale: "Starkes Eigeninteresse"

Medien und Skandale: "Starkes Eigeninteresse"
Medien haben ein Eigeninteresse an Skandalen, sagt Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Ob der Fall Käßmann zum Skandal taugt, müsse sich aber erst noch zeigen.
24.02.2010
Von Henrik Schmitz

evangelisch.de: Sie haben ein Buch über Skandale herausgegeben. Was macht einen Skandal eigentlich aus?

Bernhard Pörksen: Ein Skandal hat drei Merkmale. Erstens: Es gibt eine Normverletzung oder Grenzüberschreitung. Zweitens: Die Normverletzung wird bekannt. Drittens: Der Fall löst eine kollektive Empörung aus.

evangelisch.de: Margot Käßmann ist dabei erwischt worden, wie sie betrunken Auto gefahren ist. Ist das aus medienwissenschaftlicher Sicht ein Skandal?

Pörksen: Das kommt darauf an, ob sich in den nächsten Tagen tatsächlich eine kollektive Empörung darüber entwickelt, dass Käßmann gegen ihre eigenen Standards verstoßen hat. Es gibt Punkte, die dafür sprechen, aber auch Punkte, die dagegen sprechen.

Moralisches Milieu

evangelisch.de: Was spricht dafür?

Pörksen: Margot Käßmann ist in einem moralischen Milieu beheimatet, der Kirche. Das macht sie besonders skandalanfällig. Meine Formel lautet: Moralisierung produziert Skandalisierung. Schaut man sich die Skandale der Vergangenheit an, stellt man fest, dass gerade das Verhalten von Menschen, die selbst moralisieren oder sich in moralischen Milieus bewegen, zu Recht oder zu Unrecht, besonders leicht zum Objekt einer Skandalisierung werden kann. An solche Menschen werden eben besondere Maßstäbe angelegt, man kann sich leichter empören.

evangelisch.de: Ist das nicht unfair? Sich für Werte einzusetzen ist ja löblich und bedeutet nicht automatisch, dass man selbst ein besserer Mensch ist. Ist die Häme der Medien nicht unangebracht?

Pörksen: Die Frage der Fairness stellt sich in der gegenwärtigen Medienlandschaft überhaupt nicht mehr, das muss man ganz kühl konstatieren. Für die Medien stellt der Fall Käßmann eine perfekte „Wasser-Wein-Entlarvung“ dar: Man weist einem Amtsträger nach, dass er Wasser predigt und Wein trinkt und seinen eigenen moralischen Ansprüche nicht genügt. Das ist eine Entlarvungsgeste, die gerade die Boulevardmedien lieben.

Authentischer Umgang mit Fehlern

evangelisch.de: Was spricht dagegen, dass sich der Vorfall zu einem Skandal auswächst?

Pörksen: Margot Käßmann pflegt einen sehr offenen, ehrlichen und authentisch wirkenden Umgang mit eigenen Fehlern und Schwächen. Es könnte also durchaus sein, dass die Menschen sich gar nicht so sehr über das mehr als peinliche Delikt empören und ihr die Angelegenheit auch verzeihen.

evangelisch.de: Man hat manchmal den Eindruck, Medien haben ein großes Interesse daran, Dinge zu Skandalen zu machen. Teilen Sie diesen Eindruck?

Pörksen: Absolut. Mit dem Skandal erzeugt man Aufmerksamkeit, und diese Aufmerksamkeit brauchen Medien, die sich ja auch in einer Konkurrenzsituation befinden, schon aus wirtschaftlichen Gründen. Darum neigen Medien dazu, Informationen, die sie veröffentlichen, inflationär zum Skandal zu erklären: Man zeichnet die eigene Nachricht als etwas aus, das unbedingt beachtet werden sollte – und brüllt: „Skandal!“ Medien bieten dem Publikum übrigens beinahe täglich Skandalisierungsvorschläge an. Diese verfangen aber nicht immer, weil die Empörung des Publikums ausbleibt oder nicht so massiv ist.

Umgang mit Skandalen

evangelisch.de: Ist man den Medien hilflos ausgeliefert, wenn diese einen Skandal produzieren wollen?

Pörksen: Die Frage ist, ob es einem gelingt, die öffentliche Empörung zu brechen oder zu kanalisieren. Dazu braucht es ein gutes Skandalmanagement. Wichtig ist etwa, sein Fehlverhalten einzugestehen, dieses transparent zu machen und um Verzeihung zu bitten. Das nimmt der Empörung oft die Kraft. Keinesfalls darf man die Grenzverletzung herunterspielen – oder sie gar leugnen. Dann kommt es zu einer Grenzüberschreitung zweiter Ordnung, einem Skandal, der durch den eigenen Umgang mit dem ursprünglichen Skandal hervorgerufen wird. Die Menschen empören sich darüber, dass jemand seinen Fehler nicht einsieht oder im schlimmsten Fall sogar versucht, diesen zu vertuschen und abzustreiten. Denken Sie an das berühmte "Ehrenwort" von Uwe Barschel.

evangelisch.de: Was löst eine Skandalisierung in den Medien bei denen aus, die davon betroffen sind?

Pörksen: In dem Buch, das Jens Bergmann und ich veröffentlicht haben, finden sich zahlreiche Interviews mit Menschen, die in Skandale verwickelt waren. Was wir beobachtet haben ist, dass die Skandale auf die Betroffenen oft eine traumatisierende Wirkung haben. Die öffentliche Empörung schlägt offenbar so tiefe Wunden, dass viele Menschen nicht darüber hinwegkommen. Der Skandal ist ihnen auch nach vielen Jahren noch sehr gegenwärtig, während das Publikum ihn in der Regel nach vier bis sechs Wochen schon vergessen hat – und sich immer neuen Aufregern zuwendet.

Herrschendes Wertesystem

evangelisch.de: Unterliegen Skandale auch einem Wandel? Ist, was heute ein Skandal ist, morgen schon keiner mehr?

Pörksen: Ja, das macht Skandale so interessant. Man kann an ihnen sehr viel über das herrschende Wertesystem ablesen. Empörung entsteht nur, wenn das Wertesystem einer Gesellschaft getroffen ist. Man kann also an einem echten Skandal ablesen, welche Werte in einer Gesellschaft oder einer Kultur als verbindlich angesehen werden – und was unbedingt abgelehnt und mit mehr oder minder guten Argumenten verteufelt wird.


Prof. Dr. Bernhard Pörksen lehrt Medienwissenschaften an der Universität Tübingen. Er ist Mitherausgeber des Buches "Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung".