Jesuitenschüler systematisch missbraucht - Bisher 115 Opfer

Jesuitenschüler systematisch missbraucht - Bisher 115 Opfer
Der Missbrauchsskandal an Schulen des Jesuitenordens in Deutschland weitet sich immer mehr aus. Die Übergriffe fanden nicht nur vereinzelt, sondern systematisch statt. Mindestens 115 Kinder und Jugendliche waren betroffen, wie aus einem am Donnerstag vorgelegten Zwischenbericht hervorgeht.

"Was über uns hereingebrochen ist ist, hat eine Dimension, die nicht abzusehen war", sagte die Missbrauchsbeauftragte des Jesuitenordens, die Rechtsanwältin Ursula Raue, bei der Vorstellung des Berichts in Berlin. Allein vom Canisius-Kolleg in der Hauptstadt hätten sich bis zu 50 Opfer gemeldet. Darüber hinaus hätten sich Vorfälle in Hamburg, Hannover, Göttingen, Bonn und Sankt Blasien ereignet.

Die Juristin sprach von zwölf Jesuitenpatres als Täter. Zudem gebe es neun Beschuldigungen gegen Lehrer an anderen katholischen Schulen. Unter den mutmaßlichen Tätern seien dabei auch vereinzelt Frauen, sagte Raue. Auch ein Hinweis zu einem Missbrauch in der evangelischen Kirche sei ihr zu Ohren gekommen. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz wollte am Donnerstag zu dem Bericht keine Erklärung abgeben.

Zahlreiche Gespräche mit Opfern geführt

Raue hat nach eigenen Angaben seit Bekanntwerden der ersten Missbrauchsvorwürfe am Canisius-Kolleg Ende Januar zahlreiche Gespräche mit Missbrauchsopfern aus den 1950er bis 1980er Jahren geführt. Zudem habe sie in den Akten über die beiden beschuldigten Patres Wolfgang S. und Peter R. recherchiert. Dort habe sie Notizen gefunden, dass die Schulleitung des Kollegs spätestens seit Mai 1981 von Übergriffen im Fall Peter R. wusste. Allerdings würden die Vergehen nur am Rande angesprochen.

Im Fall des Paters Wolfgang S. habe sich unter anderem ein Schreiben aus dem Jahr 1967 gefunden, in dem er berichtete, dass ihm "mehrfach die Hand ausgerutscht" sei, "auch dort, wo es nicht unbedingt notwendig gewesen wäre". Die Vorwürfe gegen S. beziehen sich nach Angaben Raues auf körperliche Gewalt. Er soll Schüler, die zum Teil unbekleidet waren, geschlagen haben. Die "sexuell-sadistische Komponente" dieser Bestrafungen sei vielen Opfern damals nicht bewusst gewesen, sagte Raue.

Therapien brachten keine Besserung

Es sei aus den Akten nicht erkennbar, weshalb Wolfgang S., der sich mehreren Therapien unterzog, immer wieder als Lehrer, insbesondere als Sportlehrer eingesetzt wurde, so Raue. "Es kann nur vermutet werden, dass man der Ansicht war, die Therapien würden die Probleme des Wolfgang S. lösen." An den Jesuitenschulen habe es sich bei den Übergriffen bisher nicht um Fälle schwerer Gewalt oder brutaler Vergewaltigung gehandelt, sondern um "Anfassen, Streicheln oder Selbstbefriedigung". Übergriffe mit schwerer Gewalt habe es zwar nicht an Jesuitenschulen gegeben, aber an anderen katholischen Schulen

Raue sprach sich für die zügige Aufklärung der Fälle aus. Es sei notwendig, einen Arbeitsstab für die Aufarbeitung der Vorgänge an den einzelnen Schulen und Internaten einzurichten. Es müsse geklärt werden, welche institutionellen Fehler gemacht wurden. Zudem müssten Modelle entwickelt und institutionalisiert werden, mit denen Missbrauch in Zukunft verhindert werden könne. Die Rechtsanwältin forderte daher die Einrichtung von Ombudspersonen als Ansprechpersonen für Schüler.

Brief an 500 frühere Schüler

Erste Missbrauchsvorwürfe waren Ende Januar durch den Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, bekannt gemacht worden. Mertes hatte sich mit einem Brief an rund 500 frühere Schüler seines Gymnasiums gewandt, nachdem sich bis dahin sieben Opfer sexuellen Missbrauchs durch zwei Patres bei ihm gemeldet hatten. Die Vorfälle ereigneten sich den Angaben zufolge in den 1970er und 1980er Jahren.

Der katholische Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller rief unterdessen die Kirche auf, den Zugang zum Priesterberuf zu verschärfen. Zudem sei es notwendig, die im Jahr 2002 von der Bischofskonferenz eingeführten Leitlinien "Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger in der Kirche" zu überarbeiten, schreibt er in einem Beitrag für die theologische Fachzeitschrift "Herder Korrespondenz" (Märzausgabe). So sollte der vom örtlichen Bischof jeweilige Beauftragte für Missbrauchsfälle das Vertrauen des Bischofs genießen, aber nicht zur Leitung einer Diözese gehören.

Nicht im internen Kreis verhandeln

"Die Einrichtung eines Arbeitsstabes und dessen Einbeziehung bei der Vorgehensweise sollte nicht nur eine Kann-Bestimmung, sondern eine Muss-Bestimmung sein", so Müller, der seit 1991 das therapeutisch-spirituelle "Recollectio"-Haus der Abtei Münsterschwarzach in Bayern leitet und dort auch Priester behandelt. Dadurch werde verhindert, dass Missbrauchsfälle dann doch wieder nur im internen Kreis verhandelt würden. Ein solcher Arbeitsstab sollte neben den Ad-hoc-reffen regelmäßig zusammenkommen. "Es soll Bistümer geben, in denen es zwar diese Arbeitsstäbe gibt, sie aber so gut wie noch nie einberufen wurden."

Es sei höchste Zeit, dass es dort einen kompetenten Ansprechpartner gibt, der für den ganzen Bereich sexuellen Missbrauch in der Kirche zuständig ist, so der Theologe weiter. Er sollte die Arbeit der diözesanen Beauftragten und ihrer Arbeitsstäbe koordinieren, den Austausch mit entsprechenden Einrichtungen anderer Bischofskonferenzen ­ zum Beispiel in den USA oder Kanada ­ und dem Vatikan pflegen und die wissenschaftliche Entwicklung in diesem Bereich verfolgen. Vor allem solle er auch als Sprachrohr nach außen zur Verfügung stehen.

Sexualität nicht tabuisieren

Wer Priester werden will, müsste nach Ansicht Müllers einem sorgfältigen Ausleseprozess unterliegen, der die Einbeziehung von psychologischen Fachleuten und gegebenenfalls auch Tests erfordere. Weiter sei es wichtig, den ganzen Bereich der Sexualität nicht zu tabuisieren, sondern bei der Ausbildung ganz selbstverständlich mit zu berücksichtigen. Künftige Priester müssten fähig sein für tiefe, bedeutungsvolle Beziehungen und zu einer legitimen Form der Erfahrung von Intimität, die nicht im Gegensatz zum zölibatären Lebensstil stehe, sondern diesen im Grunde genommen stütze.

Die Kirche und ihre Verantwortlichen hätten auch eine Verantwortung gegenüber Priestern, die Minderjährige sexuell missbrauchen, schreibt der Fachmann weiter. Diese Geistlichen dürften nicht fallen gelassen werden. Vielmehr müsse die Kirche dafür Sorge tragen, dass ihnen geholfen werde, unter anderem durch Psychotherapie und geistliche Begleitung. Die Suspendierung vom Amt könne für solche Priester "den sozialen Tod" bedeuten. "In einer solchen Situation ist der Betreffende oft suizidgefährdet und bedarf deshalb einer spirituellen und psychotherapeutischen Begleitung", so Müller.

"Papst weint Krokodilstränen"

Die Theologin Uta Ranke-Heinemann warf den Kirchenoberen vor, dem Volk eine Komödie vorzuspielen. Dass der Papst sexuellen Missbrauch als abscheuliches Verbrechen und eine Sünde gegen Gott bezeichnet, stufte Ranke-Heinemann auf "Focus online" angesichts der kirchlichen Praxis als unglaubwürdig ein: "Der Papst weint hier Krokodilstränen statt den Betroffenen zu helfen."

epd/dpa