"Gott macht kein großes Trara, wenn er Wunder tut"

"Gott macht kein großes Trara, wenn er Wunder tut"
Wunder oder Zufall? Wunder sind oft eine Frage des Timings, erklärt Colin Humphreys. Trotzdem sieht der Physikprofessor und Autor eines Buches über biblische Wunder dabei Gott am Werk.
15.01.2010
Das Interview führte Ulrich Pontes

evangelisch.de: In den Medien hören wir immer wieder von Wundern: Wenn ein Kind aus dem fünften Stockwerk in die Tiefe stürzt und unverletzt überlebt, oder wenn der Kapitän eines voll besetzten Passagierjets eine unwahrscheinliche Notwasserung auf dem Hudson River vollbringt. Sind Sie einverstanden, dass hier der Begriff "Wunder" verwendet wird?

Colin Humphreys: Keine leichte Frage. Ich denke dass Gott im, mit dem und durch das von ihm geschaffene Universum wirken kann und das auch tut - und dass er mit Menschen zusammenarbeitet. Natürlich kann man nicht mit Sicherheit sagen ob Gott mit dem Piloten vom Hudson River gearbeitet hat - aber es würde mich nicht überraschen. Gott könnte beschlossen haben, Passagiere und/oder Crew-Mitglieder zu retten, indem er dem Piloten half, auf diese meisterhaft geschickte Weise notzulanden. Ich denke, Gott wirkt auf derartige Weise.

Viele Wunder stehen im Einklang mit den Naturgesetzen


evangelisch.de:
Das heißt, dass für Sie bei einem Wunder in jedem Fall Gott am Werk ist?

Humphreys: Ja, für hängt der Begriff Wunder mit Gottes Wirken zusammen. Ich denke, in vielen Fällen wirkt Gott im Einklang mit der Natur um seine Wunder zu vollbringen, das heißt ohne dass Naturgesetze verletzt werden. Ganz ab und zu hat es aber auch den Anschein, dass Naturgesetze durchbrochen werden, dass Gott also in sehr spezieller Weise handelt. Beide Arten von Ereignissen würde ich Wunder nennen.

evangelisch.de: Wie kommt es, dass Sie als Naturwissenschaftler sich mit solchen Fragen beschäftigen?

Humphreys: Ich bin gläubiger Christ. Und ich bin der Auffassung, dass meine Wissenschaft und das, was ich Glaube, nicht unverbunden nebeneinanderstehen sollten. Ich halte Naturwissenschaft und christlichen Glauben für vereinbar, aber einige Dinge muss man sehr gründlich durchdenken, um zu verstehen, dass es keine Widersprüche gibt – das ist etwa beim Thema Wunder der Fall. Deshalb habe ich einige Zeit damit zugebracht, über biblische Wunder zu arbeiten: Ich habe ein Buch über die Wunder der Exodus-Geschichte geschrieben und sie dabei aus Sicht eines Naturwissenschaftlers behandelt.

evangelisch.de: Mit welchen Ergebnissen?

Humphreys: Es gibt einige ziemlich detaillierte Wundererzählungen. In vielen Fällen bin ich der Meinung, dass es sich um natürliche Vorgänge handelt. Und ich habe sogar die Vermutung, dass auch die Israeliten sie für natürliche Vorgänge hielten, aber trotzdem daran glaubten, dass es Wunder Gottes waren. Das wirklich wunderbare in diesen Fällen war das Timing. Das zeigt, dass Gott mit der Natur und mit Menschen arbeitet, um seine Zwecke zu erreichen.

Die Querung des Jordan: Wenn das Wunder 30 km entfernt passiert


evangelisch.de:
Ein Beispiel?

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Humphreys: Nehmen Sie das letzte Wunder der Exodus-Geschichte. Nachdem sie rund 40 Jahre in der Wildnis unterwegs waren, kamen die Israeliten an den Jordan und wollten unbedingt auf die andere Seite. Aber der Fluss hatte Hochwasser, das erzählt uns das Buch Josua. Sie konnten also das Verheißene Land sehen, aber nicht hingelangen. Dann hörte das Wasser plötzlich auf zu fließen und sie konnten auf die andere Seite gehen, was die Israeliten eindeutig als ein großes Wunder auffassten. Heute mögen Leute sagen, das sei Unsinn, weil ein Fluss schließlich nicht einfach mal plötzlich versiegt. Aber in der Bibel finden wir in bemerkenswertes Detail: Sie sagt uns, dass das Wunder sich nicht an der Stelle ereignete, wo die Israeliten waren. Das Wasser stoppte weit weg bei der Stadt Adam nahe Zaretan, heißt es in Josua 3,16 - etwa 30 Kilometer flussaufwärts.

Heute wissen wir aus historischen Aufzeichnungen, dass genau an dieser Stelle des Jordantals immer wieder durch Erdbeben ausgelöste Schlammlawinen auftraten, die den Fluss ein oder zwei Tage lang stoppten, bis das Wasser das Hindernis überwand. Es gibt etwa zehn historisch belegte Ereignisse dieser Art, das früheste im Jahr 1.200 vor Christus, weiter reichen die Aufzeichnungen nicht zurück. Wenn man also Geschichte und Naturwissenschaft kombiniert, würde ich sagen, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dieser Mechanismus war, durch den das Wunder geschah. Trotzdem bleibt es ein großes Wunder, dass es just im richtigen Moment passierte.

Gebetserhörungen, die anderen helfen


evangelisch.de:
Könnte ein skeptischer Mensch das nicht dem Zufall zuschreiben? In dem Sinne, dass die Israeliten zwar auserwählt waren - aber nur von einem statistischen Effekt?

Humphreys: Ja, wenn man nur dieses eine Wunder betrachtet, könnte man sagen, es war nur Zufall. Aber in der Geschichte des Auszugs aus Ägypten findet man eine ganze Reihe Wunder, und die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei allen um glückliche Zufälle handelt, wird mit jedem Wunder geringer. Am Ende sagt man: Das ist wunderbar. Vielleicht noch ein etwas aktuelleres Beispiel: Eine berühmte Person, George Mueller, leitete vor etwa 100 Jahren ein Waisenhaus im englischen Bristol, das völlig von Spenden abhängig war. Manchmal war die Finanzlage äußerst angespannt – aber genau im richtigen Moment kam dann immer ein Scheck mit der Post, mit genau der richtigen Summe, um die Stromrechnungen zu bezahlen oder was auch gerade anlag. Das passierte nicht einmal, sondern immer und immer wieder. Ich würde sagen, Gottes Hand ist hier am Werk, und zwar in folgender Weise: Es gab Menschen, die kannten das Waisenhaus – und sie beteten jeden Tag und baten Gott, sie zu leiten. Gott beauftragte diese Menschen im richtigen Moment, die richtige Summe Geld zu schicken. Ich denke, das ist die Art und Weise wie Gott wirkt, die Art und Weise wie er Gebete beantwortet. Und ich denke, es ist die logischste Erklärung dafür, was diesem Waisenhaus widerfahren ist.

evangelisch.de: Aber ist diese Zuschreibung, dass Gott dahintersteckt, nicht angreifbar? Es gibt schließlich nicht nur Häufungen positiver Ereignisse, sondern auch Pechsträhnen. Könnte nicht alles vom Standpunkt, von der persönlichen Interpretation abhängen?

Humphreys: In der Tat, ich finde nicht, dass wir Gott für Schlechtes verantwortlich machen sollten. Und natürlich sind Schlüsse, die man aus Erfahrungen zieht, immer angreifbar. Trotzdem glauben viele Menschen aufgrund dessen, was sie erlebt haben, fest an Gottes Wirken in ihrem Leben. Oft sehen sie das erst nachträglich, wenn sie zurückblicken. Ich denke, Gott macht kein großes Trara, wenn er ein Wunder wirkt. Er arbeitet auf subtilere Weise.

"Natürliche Erklärversuche für Auferstehung erscheinen mir unglaubwürdiger"


evangelisch.de:
Sie erwähnten auch eine andere Kategorie Wunder, wo Naturgesetze gebrochen werden.

Humphreys: Nehmen Sie die Heilungsgeschichten mit Jesus oder das Laufen auf dem Wasser: Gott scheint da etwas Besonderes zu tun. Vielleicht sollte man nicht sagen, dass hier Naturgesetze gebrochen werden, sondern besser, dass Gott hier zusätzliche Kräfte wirken lässt. Im Falle des Laufens auf dem Wasser: Man könnte es so erklären, dass Gott dort auf einem kleinen Fleck die Erdanziehung aufgehoben hat. Für einen Wissenschaftler erscheint diese Erklärung höchst willkürlich und unattraktiv. Reizvoller ist es, zu sagen dass die Erdanziehung gewirkt hat, aber dass Gott eine zusätzliche Kraft bereitgestellt und auf diese Weise Jesus und Peter sozusagen getragen hat. Oder die Heilungen: Es könnte sich möglicherweise um natürliche Prozesse gehandelt haben, die nur extrem beschleunigt abliefen. Nahegelegt wird das bei der Heilung eines Blinden, der dann zunächst sagte: "Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen" (Mk 8,24): Das Wunder war noch nicht zuendegebracht in diesem Moment. Jesus berührte ihn daraufhin ein zweites Mal, danach konnte er richtig sehen.

evangelisch.de: Würden Sie diese Sorte Wunder auch heute erwarten?

Humphreys: Hier sind die Christen gespalten: Manche würden sagen, diese sehr besonderen Wunder passieren auch heute noch, und wenn nicht, dann liegt es daran, dass unser Glaube zu schwach ist. Andere, auch ich, würden sagen dass diese Wunder heutzutage höchst selten sind. Auch in der Bibel findet man lange Zeiträume, in denen es keine solchen besonderen Wunder zu geben scheint. Sie sind in bestimmten Abschnitten der Geschichte geballt.

evangelisch.de: Manche Christen würden aber auch sagen, dass es selbst für diese Wunder natürliche Erklärungen geben muss. Etwa Sandbänke im Fall des Laufens auf dem Wasser.

Humphreys: Meine Auffassung ist: Zunächst sollten wir immer nach natürlichen Erklärungen suchen. Zum einen ist das, was ein Wissenschaftler ohnehin tun sollte. Zum anderen denke ich, dass Gott normalerweise eben auf diese Weise wirkt: Durch die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten, wie er sie geschaffen hat. Aber es gibt Fälle wo es für mich offensichtlich ist, dass es keine natürliche Erklärung geben kann, wie bei der Auferstehung. Ich weiß, es gibt andere Erklärversuche, etwa dass Jesus gar nicht wirklich starb sondern nur bewusstlos war oder ähnliches. Aber mir erscheinen solche Gedanken wesentlich unglaubwürdiger, als dass Gott hier ein wirkliches, sehr besonderes Wunder getan hat.


Colin Humphreys ist Professor für Physik, Träger des Verdienstordens "Commander of the British Empire" und Mitglied einer baptistischen Gemeinde. Er lehrt Materialwissenschaft an der Universität Cambridge und Experimentalphysik an der Royal Institution, London, hat aber auch immer wieder in theologischen Zeitschriften publiziert. Derzeit schreibt er an einem Buch über das letzte Abendmahl.