Fünf Jahre Hartz-IV-Reform: "Ich bin nicht doof oder asozial"

Fünf Jahre Hartz-IV-Reform: "Ich bin nicht doof oder asozial"
Das Dortmunder Sozialkaufhaus der Diakonie bietet Menschen, die von Hartz IV leben, eine Perspektive: Hier sind Ein-Euro-Jobber keine billigen Arbeitskräfte, sondern bekommen die Chance, sich tatsächlich für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren.
21.12.2009
Von Maike Freund

Elke und Patrizia sind zwei der Ein-Euro-Jobber, die im Sozialkaufhaus Dortmund nach einem neuen Anfang suchen. Wie eine Maschine sortieren Elkes Hände: Sack aufreißen, Kleidung heraus nehmen, den Zustand beurteilen. Hier die Sachen, die in Ordnung sind, dort den Rest. Dann das nächste Teil, so schnell, als hätten ihre Hände nie etwas anderes getan. Wie Hummeln summen die Waschmaschinen im Hintergrund. Patrizia faltet die fertigen Sachen. Auch ihre Hände bewegen sich schnell, fast als würden sie fliegen. Müssen sie auch. In der Lagerhalle wartet noch kistenweise ausrangierte Kleidung auf ihre Generalüberholung, bevor sie in den Verkauf kommt. Hinten rechts: Drei, vier Mitarbeiter, die bügeln. Arsen ist einer von ihnen. Das Bügeleisen schnauft – er macht sich schon an das nächste Teil. Alles Routine – Alltag im Sozialkaufhaus in Dortmund.

Der Abrutsch in Hartz IV

[linkbox:nid=8652,7116,7118,8560,4817,1459;title=Mehr zu Hartz IV und Jobcentern]

Dortmund, Nordstadt, zehn Uhr. Die ersten Kunden warten schon vor der Tür, bis das Sozialkaufhaus "Jacke wie Hose" der Diakonie öffnet; sie wollen die besten Teile ergattern. Hier gibt es gespendete, gebrauchte Kleidung, Möbel, Kinderspielzeug oder E-Geräte. Nicht umsonst, denn die Menschen sollen nicht das Gefühl haben, Almosen zu bekommen, erklärt Kaufhaus-Chef Björn Kastelan. Aber es gibt die Dinge für kleines Geld. Der Bedarf ist groß: 250 bis 350 Kunden kommen pro Tag. Viele Möbel stehen nicht mal 48 Stunden hier, bevor sie einen neuen Besitzer finden. Die Kunden des Sozialkaufhauses: Hartz-IV-Empfänger, junge Mütter, die sparen müssen, Alte mit schmaler Rente, bedürftige Familien, Ausländer, die vom Staat bezuschusst werden. Ab und zu steht auch ein Porsche vor der Tür, erzählen Mitarbeiter. Das ist allerdings eher die Ausnahme. Die Arbeitnehmer: hauptsächlich Ein-Euro-Jobber.

Zu ihnen gehört Elke - die mit den flinken Händen. Sie ist 42, hat drei Kinder. Als ihr Mann schwer krank wurde, kündigte sie ihren Job. Sie hat es einfach nicht mehr geschafft, noch arbeiten zu gehen. Wann auch? Mann, Kinder, Haushalt seien schon ein Vollzeitjob. So ist sie in Hartz IV gerutscht. Drei Jahre ist das her. Jetzt arbeitet sie seit Februar als Ein-Euro-Jobber bei "Jacke wie Hose". Seit dem geht es finanziell etwas besser. Tatsächlich bekommt sie 1,50 Euro pro Stunde, 180 Euro pro Monat mehr auf dem Konto, die auf ihren Hartz-IV-Satz nicht angerechnet werden. Geld, von dem sich die Familie schon mal eine Pizza aus der Pizzeria leistet. Oder von dem die Kindern ab und zu zwei Euro zusätzlich bekommen können. Was nach dem Ein-Euro-Job kommt, weiß sie nicht, denn den kann sie nur für maximal zwölf Monate machen. Sie hofft auf eine Stelle als Verkäuferin. Vielleicht wird ihr das Arbeitszeugnis des Sozialkaufhauses dabei helfen.

Der sehnlichste Wunsch: Eine berufliche Perspektive

Vor fünf Jahren – im Januar 2005 – trat Hartz IV in Kraft. Mit diesem Gesetz wurden Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe von einer neuen Sozialleistung abgelöst, der Grundsicherung für Arbeitssuchende, dem so genannten Arbeitslosengeld II. Rund 4,9 Millionen Menschen bekamen laut Arbeitsagentur im November 2009 Arbeitslosengeld II. Hinzu kamen rund 1,8 Millionen Menschen, die Sozialgeld erhielten, weil sie nicht erwerbsfähig waren. Am meisten Hilfe brauchten Menschen in strukturschwachen Gebieten Westdeutschlands – dazu zählt auch das Ruhrgebiet – und in Ostdeutschland. Unter den Empfängern ist die Zahl der Ausländer (16,6 Prozent) und die der Kinder unter 15 Jahren (15,6 Prozent) am höchsten. "Mit dem neuen Gesetz ist der Grundsatz 'Fördern und Fordern' verbunden", so eine Broschüre der Arbeitsagentur, "damit Sie Ihren Lebensunterhalt und den Ihrer Familie so schnell wie möglich aus eigener Kraft bestreiten können."

Aus eigener Kraft den Lebensunterhalt bestreiten zu können, nicht mehr angewiesen sein auf den Staat: ihr sehnlichster Wunsch. Sie schämt sich. Nicht, weil sie Hilfe in Anspruch nehmen muss. Das könne jedem passieren. Sondern weil sie noch so jung ist. Patrizia ist 27, seit eineinhalb Jahren bekommt sie Hartz IV, hier im Sozialkaufhaus hat sie gerade erst angefangen. Auf Schule hatte sie keine Lust, "ich war perspektivlos", sagt sie. Also ging sie mit 17, nach dem Hauptschulabschluss, im Krankenhaus putzen. Morgens um fünf hat sie schon den Wischmopp geschwungen, harte Arbeit ist sie gewohnt. Deshalb wehrt sie sich auch gegen den Generalverdacht der Gesellschaft, alle Hartz-IV-Empfänger seien faul. "Nur weil ich Hartz IV bekomme, bin ich lange noch nicht doof oder asozial." Sie sagt selbst von sich: "Heute bin ich im Kopf weiter, heute will ich eine Perspektive." Am liebsten möchte sie im Verkauf arbeiten. Dass es nicht einfach ist, einen Job zu finden, hat sie oft genug zu spüren bekommen. Und sie kann sogar ein bisschen verstehen, warum sie keinen Ausbildungsplatz gefunden hat: "Ich kann ja nichts", sagt sie.

Alles ist besser als keine Aufgabe zu haben

Auch in der Politik ist das Thema Hartz IV gegenwärtig. Aktuell diskutiert der Bundestag über einen Gesetzesentwurf der SPD (17/181) zur Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die Agentur für Arbeit und die Kommunen sorgen gemeinsam in Form von Arbeitsgemeinschaften für die Leistungen. Derzeit gibt es 353 solcher Argen. Außerdem gibt es ein zweites Modell, bei denen in 69 Kreisen und Gemeinden die Kommunen die Verantwortung alleine tragen. Weil das Bundesverfassungsgericht aber entschied, dass die Zusammenarbeit in den Arbeitsgemeinschaften nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, muss nun eine neue gesetzliche Reglung bis Ende des Jahres her.

Viel zu kompliziert, viel zu weit weg seien die Diskussionen der Politiker. Sie interessieren Patrizia schon, schließlich betrifft es sie ja. Aber erst, wenn es zu Änderungen kommt. "Es wird zu viel diskutiert; zu schwer ist es, da durchzublicken", denkt sie. Aber Patrizia ist dankbar, dass es die staatliche Unterstützung gibt. Sie kann nicht verstehen, dass sich einige noch über zu wenig Geld aufregen. Viel bleibt ihr nicht, aber damit kommt sie aus. Vom Satz für Alleinstehende – 359 Euro im Monat – muss sie noch Schulden von früher und die Gasrechnung bezahlen. Zum Leben bleiben ihr 200 Euro, trotz 1,50-Euro-Job. Ja, sie muss auf die Preise achten. Und ja, sie schränkt sich ein. Nur auf Kosmetik will sie nicht verzichten. Sie ist dankbar für den Job – nicht nur wegen des zusätzlichen Geldes: Alles ist besser als zu Hause zu sitzen. Alles ist besser als keine Aufgabe zu haben. Und es tut ihr gut, einen Teil des Geldes selbst zu verdienen.

Ein-Euro-Jobber zufriedener als Hartz-IV-Empfänger

Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeit und Sozialforschung, für die 10.000 Hartz-IV-Empfänger befragt wurden, bestätigt Patrizias Gefühl: Die Studie zeigt, dass Ein-Euro-Jobber zufriedener sind als Menschen, die nur von Arbeitslosengeld II leben. Das ist es auch, was Björn Kastelan, der Sozialkaufhaus-Chef, seinen Mitarbeitern ermöglichen will: eine Perspektive. Sich unter realen Bedingungen wieder an einen Arbeitsalltag zu gewöhnen, sich weiterzuentwickeln, zu qualifizieren und vielleicht einen neuen Job zu bekommen. Im vergangenen Jahr waren es immerhin zehn, die es mit Hilfe dieser diakonischen Einrichtung geschafft haben. Aber natürlich gibt es auch die anderen, die, die es nicht schaffen. Das sind die meisten.

Peter (Name geändert) schlendert durch die Verkaufshalle. Er hat es nicht eilig. Er hat viel Zeit. Peter ist arbeitslos, seit vier Jahren schon. Jetzt ist er 53, die Hoffnung auf einen neuen Job hat er aufgegeben. Nach Hause will er nicht. Denn hier ist es warm. In seiner Ein-Zimmer-Wohnung ist es kalt, denn Gas ist teuer. Außerdem wartet dort niemand auf ihn – keine Frau, keine Kinder. Hier kann er in Ruhe schauen, was es Neues gibt, vielleicht ein paar Worte mit einem anderen Kunden wechseln, sich die Zeit vertreiben. Er kommt oft hierher, sagt er, auch, wenn er nicht ausschließlich hier einkauft. Eine grüne Strickjacke hat es ihm angetan. Er könnte sie gut gebrauchen, denn sie ist dick und aus Wolle. Zwei Euro soll sie kosten. Er legt die Jacke über seinen Arm, geht weiter zu den Büchern. Dann dreht er sich noch einmal um und lächelt: "Billiger als Gas", sagt er. Dann greift er nach einem Buch.


 

Maike Freund, Jahrgang 1978, geboren in Köln, ist freie Autorin aus Dortmund. Dort studiert sie Journalistik und schreibt nebenher für evangelisch.de.