Bruttoinlandsprodukt: Die Vermessung des Glücks?

Bruttoinlandsprodukt: Die Vermessung des Glücks?
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gilt als entscheidende Kennziffer für denökonomischen Erfolg eines Landes und seiner Regierung. Dabei sagt es nicht viel über die Lebensqualität der Bevölkerung aus. Wissenschaftler und Politik suchen deshalb nach neuen statistischen Werkzeugen jenseits des BIP, wie der taz-Redakteur Stephan Kosch aufzeigt.

Frau Müller ist Ende vierzig, hat drei Kinder groß gezogen und wollte eigentlich schon seit einigen Jahren wieder zurück in ihren Beruf als Außenhandelskauffrau. Doch dann wurde ihre Mutter pflegebedürftig. Ein Platz in einem Heim, das ihre Ansprüche erfüllt, war nicht zu bekommen. Jetzt pflegt Frau Müller Tag für Tag ihre Mutter und rechnet nicht mehr damit, irgendwann wieder eine Festanstellung zu bekommen...

Herr Hansen ist Anfang fünfzig und Kapitän. Er sitzt auf der Brücke eines modernen Containerschiffes, das regelmäßig über die Ostsee nach Osteuropa fährt. Bis vor kurzem waren seine Frachträume stets voll, der Welthandel boomte. Jetzt spürt auch seine Reederei die weltweite Krise. Noch hat Hansen seinen Job, aber er macht sich große Sorgen um seine Zukunft. Sein Arzt hatte ihm zwar geraten, kürzer zu treten und ihn ermahnt, besser auf seine Gesundheit zu achten. Aber das kann er sich gerade jetzt nicht leisten...

Herr Hansen und Frau Müller landen früher oder später auf den Schreibtischen im Statistischen Bundesamt. Denn sie haben Einfluss auf die volkswirtschaftliche Bilanz der Bundesrepublik. Herr Hansen sorgt trotz Krise für Einnahmen im Export. Die werden berücksichtigt, wenn die Experten vom Statistischen Bundesamt demnächst wieder berechnen, ob die deutsche Wirtschaft noch in der Rezession steckt oder schon wieder wächst. Denn der Außenhandel ist Teil des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Würde Frau Müller in ihrem Beruf arbeiten, käme auch sie in der entscheidenden Kennziffer jeder Volkswirtschaft vor. Doch ihre tägliche Pflegearbeit bleibt ebenso unberücksichtigt wie Kochen, Putzen und die Erziehung ihrer Kinder. Dabei schätzen Experten, dass die unbezahlte Hausarbeit in Deutschland ein Volumen von rund 40 Prozent des bips umfasst. Doch das fällt weg, lediglich als Konsumentin ist Frau Müller interessant für die Statistiker, ihre Ausgaben sind Teil des BIP.

Messart mit Schwächen

Schon diese Beispiele zeigen: Das Bruttoinlandsprodukt zeichnet kein komplettes Bild einer Volkswirtschaft, zum Teil verzerrt es sogar deutlich. Die Arztkosten, die der zunehmende Stress bei Kapitän Hansen verursacht, steigern paradoxerweise das BIP. Und sollte Hansens Schiff einmal vor der polnischen Ostseeküste auf Grund laufen und das auslaufende Dieselöl für schmutzige Strände sorgen, wird das allenfalls die Bilanz der polnischen Fremdenverkehrsbranche trüben. Aber auch nur dann, wenn tatsächlich die Touristen ausbleiben. Wie viele Vögel und Fische bis dahin verendet sind, wird das polnische BIP nicht zeigen. Möglicherweise wächst es sogar leicht, denn die Spezialfirmen, die die Strände reinigen und das Schiff wieder flott machen, erzielen Einnahmen, die irgendwo in den Zahlenkolonnen der polnischen BIP-Berechner zu finden sind.

Doch trotz dieser Unzulänglichkeiten gilt das Wirtschaftswachstum als entscheidender Indikator der volkswirtschaftlichen Statistiken. Die offiziellen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes und die jeweiligen Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute werden an der Börse ähnlich wichtig genommen wie die Bilanzen von Dax-Konzernen. Die jeweiligen Wachstums- oder Schrumpfungsdaten sind die Geschäftsergebnisse der nationalen Ökonomien. An ihnen wird der wirtschaftliche Erfolg eines Staates und seiner Regierung gemessen.

Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Das BIP bezieht sich auf Geld- und Warentransaktionen, die dokumentiert und damit sowohl vergleichsweise leicht nachvollziehbar als auch international vergleichbar sind. Der zweite Grund: Die Volkswirtschaften der Industriestaaten sind auf stetes Wachstum angewiesen. Der Leiter des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie, Gustav-Adolf Horn, sagte im Gespräch mit zeitzeichen: "Eine Wirtschaft ohne Wachstum wäre keine friedliche Wirtschaft. Denn das bedeutet steigende Arbeitslosenzahlen und wachsende Verteilungskämpfe."

Das BIP sagt nichts über die Qualität des Wachstums

Das liegt daran, dass die Unternehmen an wachsender Produktivität interessiert sind, und so in neue Maschinen investieren, damit sie immer weniger Arbeitskraft für ihre Produkte oder Dienstleistungen benötigen. Das bringt Kostenvorteile gegenüber den Konkurrenten. Damit nun dennoch keine Stellen gestrichen werden oder gar neue entstehen, muss das Unternehmen seine Produktion insgesamt erhöhen, also wachsen. Sollten die Investitionen über einen Kredit finanziert worden sein, muss das Wachstum noch mal etwas höher ausfallen, um die Zinsen zu bedienen.

Gelingt das nicht, werden entweder die Löhne sinken oder Arbeitnehmer entlassen. Beides sorgt für einen Rückgang des Konsums, was wiederum weitere Unternehmen unter zusätzlichen Produktivitätsdruck setzt. Gleichzeitig sinken die Steuerzahlungen an den Staat und die Beitragseinnahmen der Sozialkassen, womit zum Beispiel auch im Gesundheitssystem der Kostendruck steigt. Und das hat wiederum Auswirkungen auf die dort Beschäftigten und die Patienten, denen höhere Beiträge drohen. Damit bleibt wieder weniger für den Konsum, was wiederum die Unternehmen unter Druck setzt. Die Spirale dreht sich weiter nach unten. Wachstum erzeugt Arbeit, aber ohne Arbeit gibt es auch kein Wachstum, mit all den beschriebenen Konsequenzen.

Das erklärt, warum die Politik stets auf das bip und seine Steigerung fixiert ist, denn ohne Wachstum drohen gesellschaftliche Unruhe und unbequeme Umverteilungsfragen. Es ist wie beim Windsurfen. Solange der Wind weht, fällt es relativ leicht, auf dem Brett zu stehen und über das Wasser zu gleiten. Eine Flaute stoppt aber die Fahrt, das Brett schwankt und der Surfer kommt aus dem Gleichgewicht. Dann beginnt die Suche nach dem nächsten Wind, in den das Segel gehalten werden kann, damit es irgendwie weitergeht. Woher oder wohin er weht, ist zweitrangig. Oder, wie Gustav Adolf Horn sagt: "Das BIP sagt nichts über die Qualität des Wachstums aus."

Wie berechnet man den Wert eines Laubfroschs?

Dabei spielt es für den "Wohlstand" einer Nation durchaus eine Rolle, welcher Preis für dasWirtschaftswachstum gezahlt wird.Wenn für eine neue Fabrik Waldflächen gerodet werden und neue Straßen gebaut werden müssen, geht das zum Beispiel zu Lasten des "Naturvermögens", über das jedes Land verfügt. Der Dreck aus den Schornsteinen kann zu einer höheren Zahl von Bronchialerkrankungen führen. Nach Schätzungen derWeltbank würde das bip Chinas pro Jahr um sechs Prozent geringer ausfallen, wenn die soziale und ökologische Verschlechterungen mit in die Rechnung einbezögen würden.

Mehr materieller Wohlstand, führt also nicht unweigerlich zu mehr Lebensqualität, der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein. Diese biblische Erkenntnis istmittlerweile auch statistisch von "Glücksforschern" belegt. Sie fanden heraus: Die Zufriedenheit der Menschen steigt tatsächlich mit den ersten großen Wachstums- und Wohlstandssprüngen Wohlstandssprüngen. Doch wenn erst die grundlegenden Bedürfnisse gesättigt und die erste Konsumlust befriedigt ist, steigt die Zufriedenheit nicht mehr in gleichem Maße an. Anders formuliert: Der Mensch braucht zwar sein tägliches Brot und er empfindet es als deutliche Bereicherung, wenn erWurst oder Käse dazu hat. Dieses Gefühl wächst aber nicht proportional zu jeder weiteren Sorte Belag, die auf den Tisch kommt. Nicht umsonst sprechen Ökonomen von „gesättigten“ Volkswirtschaften, in denen die Wachstumsraten immer schwerer zu erreichen sind und der Konsument nur durch hohen Werbeaufwand zum Kauf gereizt muss.

Grenzen des Wachstums

Solche sozialen und ökologischen "Grenzen des Wachstums" waren schon in den Siebzigerjahren Thema. Und das nicht nur im gleichnamigen Besteller von DennisMeadows aus dem Jahr 1972. Ein Jahr später legten die US-Ökonomen William Nordhaus und James Tobin erste Ansätze für einen Measure of Economic Welfare (MEW) vor, der soziale Kosten vom Volkseinkommen abzieht, gleichzeitig aber zum Beispiel Werte wie Freizeit als wohlstandsmehrend berücksichtigt. Diese Ansätze wurden von anderen Ökonomen weiterentwickelt. In den Achtziger- und Neunzigerjahren entstanden so der Index of Sustainable Economic Welfare (ISEW) für nachhaltiges Wachstum und der Genuine Progress Indicator (GPI), der für sich in Anspruch nimmt, "echten Fortschritt" zu messen. Letzterer berücksichtigt unter anderem neben demWirtschaftswachstum auch Ressourcenabbau, Kriminalitätsraten, Familienstrukturen und den ökologischen Zustand einer Volkswirtschaft.

Solche Fragen sind gerade auch für die Entwicklungspolitik wichtig. So hat auch die Weltbank als großer Finanzier von Entwicklungsprojekten einen entsprechenden Index konzipiert. Der unter anderem vom Nobelpreisträger Amartya Sen entwickelte Human Development Index (HDI) bezieht nicht nur das bip und die durchschnittliche Kaufkraft der Einwohner eines Landes ein, sondern auch ihre Lebenserwartung und die Alphabetisierungsrate. Die besten Werte erzielten (vor der Wirtschaftskrise) Island, Norwegen, Australien und Kanada. Deutschland lag auf Platz 22, Schlusslichter sind Guinea-Bissau, Burkina Faso und Sierra Leone.

Es gibt noch viele weitere wissenschaftliche Versuche, Wohlfahrt und Entwicklungsstand eines Landes in Zahlenwerke zu bringen. Doch schon diese kurze Auflistung zeigt: Wer sich nicht allein auf das bip verlassen will, betritt ein wirtschaftswissenschaftliches Gelände, das zwar nicht unberührt ist, aber dennoch unübersichtlich. Lassen sich Lebensqualität und Glück im weitesten Sinne überhaupt messen? Wie kann eigentlich derWert eines Laubfrosches in einem Biotop in Euro und Cent umgerechnet werden? Ist das überhaupt ethisch angemessen? Hat nicht jedes Leben an sich einen Wert? Und selbst wenn diese Fragen gelöst werden: Welcher Index ist denn dann der richtige?

Suche nach neuen Kennziffern

D ieser Frage widmet sich einiger Zeit auch die Politik. So hat zum Beispiel der französische Präsident Nicolas Sarkozy eine hochrangige Kommission mit fünf Nobelpreisträgern einberufen. Unter anderem suchen Joseph Stiglitz, Amartya Sen und der Klimaökonom Nicholas Stern seit dem Frühjahr 2008 nach neuen Kennziffern für die Volkswirtschaft. In diesenWochen wollen die Experten ihren Abschlussbericht vorlegen. Den vorläufigen Ergebnissen zufolge wird sich die Gruppe aber nicht auf einen neuen Indikator festlegen, sondern eher auf eine Art Armaturenbrett mit mehreren Anzeigen.

Auch auf europäischer Ebene wird an dem Thema gearbeitet. Union und EU-Parlament starteten gemeinsam mit anderen Veranstaltern 2007 eine Initiative unter dem Titel "Mehr als BIP". Kommissionspräsident Manuel Baroso erklärte damals: "Wir können den Herausforderungen der Zukunft nicht mit den Werkzeugen der Vergangenheit begegnen."

Einen Vorschlag in diesem Rahmen liefert Hans Diefenbacher, stellvertretender Leiter der Forschungsstätte Evangelische Studiengemeinschaft. Gemeinsam mit seinem Kollegen Roland Zieschank von der Freien Universität Berlin geht er noch einen Schritt weiter als die Nobelpreisträger in Frankreich und wagt es, einen einzigen Index alternativ zum BIP zu konzipieren, den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI).

Dritte industrielle Revolution nötig

Dabei greifen die beiden Volkswirte auch auf die bestehenden Indizes zurück, berücksichtigen aber unter anderem zusätzlich die Kosten, die durch Kriminalität und den Konsum von Alkohol bedingte Krankheiten entstehen. Insgesamt 21 Faktoren fließen in ihre Berechnungen ein. Das Ergebnis: In den meisten Jahren seit 1990 lag der NWI unter dem Bruttonationalprodukt. Und während dieses seit den Neunzigerjahren ständig steigt, sinkt der NWI spätestens seit dem Jahr 2000 wieder. Die entscheidenden Faktoren, die zu dieser Spreizung geführt haben, sind die Einkommensverteilung und die zunehmenden ökologischen und langfristigen Folgekosten unseres Wirtschaftens.

Doch Diefenbacher geht noch weiter. "Die Wirtschaft der Bundesrepublik ist zwischen 1950 und 1972 um das Siebenfache und seit 1972 noch einmal um das Doppelte gewachsen", sagt er. "Es ist immer schwerer, hohe Wachstumsraten zu erreichen." Das Ende des Wachstums herkömmlicher quantitativer Art ist also in Sicht, was auch bedeutet, dass das Prinzip neue Arbeit durch BIP-Wachstum nicht mehr funktionieren wird. "Wir würden auf diesem traditionellen Weg ein großes Umverteilungsproblem bekommen", sagt Diefenbacher. Sein Lösungsansatz: "Wir brauchen eine Art dritte industrielle Revolution – für einen effizienteren Umgang mit Energie und Rohstoffen und für den Ausbau der erneuerbaren Energien."

Zudem müssten die reichen Industriegesellschaften für eine nachhaltige Wirtschaft auch prüfen, wo sie ihren Lebensstil zukunftsverträglich ändern und eine Ökonomie der Genügsamkeit entwickeln können. Ob das bip dann wächst oder schrumpft, wäre vor diesem Hintergrund nicht mehr so wichtig, sagt Diefenbacher. "Ein Wohlfahrtsindex wie der nwi würde sich dann positiv entwickeln."

Weitere Informationen:
www.beyond-gdp.eu
www.stiglitz-sen-fitoussi.fr
www.oecd.org/progress


Stephan Kosch ist Redakteur im taz-Ressort Ökologie und Wirtschaft. Sein Artikel ist in der Zeitschrift Zeitzeichen, Ausgabe 10/2009, erschienen.