New York: Junge taucht elf Tage in der U-Bahn ab

New York: Junge taucht elf Tage in der U-Bahn ab
Der Vorwurf mangelnder Aufmerksamkeit trieb einen hochbegabten Jungen in den Untergrund. Ein 13-jähriger, autistischer Junge hat in New York elf Tage in der U-Bahn gelebt. Aus Angst vor weiterem Ärger in der Schule und Zuhause fuhr der Teenager quer durch Manhattan und ernährte sich von Croissants, Keksen und Kartoffelchips.
25.11.2009
Von Gisela Ostwald

Der Junge fuhr von Brooklyn nach Harlem und in die Bronx und wieder zurück. "Manchmal habe ich einfach aufgehört, überhaupt irgendetwas zu fühlen", sagte der erschöpfte Teenager seiner Mutter später. Die meiste Zeit schlief er - mit dem Kopf auf seinem Rucksack. Um ihn herum Menschenmassen, morgens auf dem Weg ins Büro, im Feierabendverkehr, mitten in der Nacht.

Niemandem fiel der schweigsame Francisco Hernandez Jr. auf, auch den Überwachungskameras entging er. Erst am 26. Oktober um sechs Uhr morgens wurde ein Polizist aufmerksam. Der Junge trug den gleichen roten Kapuzenpulli wie auf dem Foto, mit dem ihn die verzweifelten Eltern suchten. Sie hatten ihre Nachbarschaft in Brooklyn - auch Haltestellen - mit Flugblättern zugepflastert, waren die Straßen per Fahrrad abgefahren, hatten sich selbst in die U-Bahnen gesetzt. Ohne Ergebnis.

Rat der Ärzte ignoriert

Nach einem Bericht der "New York Times" waren die Linien 1, D und F die Favoriten des Teenies. Er hatte die Batterie aus seinem Handy genommen. "Ich wollte nicht, dass mich irgendjemand anschreit." Bei Francisco war 2006 das sogenannte Asperger-Syndrom, eine leichte Form des Autismus, diagnostiziert worden. Die Krankheit macht es ihm schwer, Kontakte zu knüpfen. Hinzu kam, dass er sich als Sohn mexikanischer Immigranten im Abseits empfand. Seine Ärzte rieten, den Jungen in eine kleinere Schule für Lernbehinderte zu schicken. Doch die Verwaltung wehrte ab. Seine Leistungen seien ausreichend, hieß es.

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Was am 15. Oktober geschah, daran erinnert sich Francisco selbst kaum mehr. Wie schon so oft in der Vergangenheit machte ihm ein Lehrer wegen seiner "mangelnden Aufmerksamkeit" Vorwürfe. Die Mutter wurde telefonisch von der Schule informiert. Dem Achtklässler drohte nach der Schelte in der Klasse auch noch das Donnerwetter zu Hause. Mit einer Fahrkarte und zehn Dollar in der Tasche flüchtete er unter Tage.

Polizist beendet Subway-Odyssee

An Kiosken kaufte Francisco, was er sich für sein Geld leisten konnte: Croissants, Kekse und Kartoffelchips. Wasser zum Trinken füllte er an Waschbecken in eine Flasche ab. Zur Toilette ging er nach Möglichkeit in der Station Stillwell Avenue in Coney Island, nicht weit von der Wohnung seiner Familie entfernt.

Mutter Marisela Garcia vermutet, dass ihr Sohn auch heute noch zwischen Brooklyn und der Bronx pendeln würde, hätte ihn der Polizist nicht nach seinem Namen gefragt. Inzwischen ist Francisco wieder in der Schule. Nur eines der Vermissten-Plakate, das die Eltern inzwischen an ihrer Wohnzimmerwand aufhängten, erinnert noch an die elftägige Subway-Odyssee.

dpa