Obdachlosigkeit: Selbsthilfe aus dem Internet

Obdachlosigkeit: Selbsthilfe aus dem Internet
Richard Brox hat das Internet für Wohnungslose nutzbar gemacht: Mit seiner Internetseite gibt er Informationen und Tipps zum täglichen Überleben. Und Einblicke in das Leben eines Obdachlosen. Ein Bericht.
10.11.2009
Von Richard Brox

Während der letzten beiden Tage habe ich auf einem Bauernhof in der Nähe von Bamberg übernachtet. Ich hab dem Bauern auf dem Feld geholfen. Dafür krieg ich freie Kost, Logis und 50 Euro die Woche. Bauernhöfe sind meist eine gute Adresse zum Übernachten. Viele Bauern erlauben das. Aber es dauert lange, bis man die richtigen Adressen kennt. Deshalb habe ich mein Obdachlosenportal www.ohnewohnung-wasnun.de gegründet. Dort erfahren Vagabunden, an wen sie sich in Städten wenden können. Entweder sie lesen in meinem Blog nach oder fragen per E-Mail.

Ich bin seit 1986 obdachlos und kenne inzwischen fast alle Anlauf- und Beratungsstellen. Und die Adressen von Notunterkünften. Die stelle ich nicht nur rein, sondern ich beurteile sie auch. Auf meiner Seite kann man erfahren, wo es in einer Stadt was zu essen gibt, wo man Tagessätze kriegt und wie sie ausbezahlt werden. Manche schütten mir auch einfach ihr Herz aus. Nicht nur Obdachlose. Oft schreiben mir auch Leute, die mir nicht glauben, dass ich selbst obdachlos bin. Sie halten mich für einen Sozialarbeiter. Die denken wohl: Wer eine eigene Website hat und sie finanzieren kann, der kann doch nicht auf der Straße leben. Aber die gut 110 Euro Gebühren für den Provider übernehmen Spender. Das zahlen die auf mein Sparkonto ein, das mir  meine Bank kostenlos überlässt.

"Ich helfe einfach"

Mir selbst bringt die Website finanziell gar nichts. Ich helfe einfach. Man bekommt im Leben irgendwann die Hilfe zurück, die man gegeben hat. Man kann viel in Bewegung setzen, um Not zu lindern, wenn man an die Öffentlichkeit geht. Als Wohnungsloser ist es sehr schwer, Hartz IV zu bekommen: Ich bin darauf angewiesen, dass ich für andere tapezieren, Wände streichen und den Rasen mähen darf. Und außerdem, na, ich bettle. Ich bin selbst pausenlos auf die Hilfe anderer angewiesen. Das will ich zu rückgeben.
Das Leben auf der Straße ist hart. Man erlebt eine Menge Gewalt. Aber mir ist in meinem Leben auf der Straße auch schon viel geholfen worden. Wer bei mir nach Hilfe sucht, soll nach wenigen Minuten wissen, wohin er gehen kann. Kostenlos.
 

Angefangen hat alles eher zufällig vor zehn Jahren in Berlin. Es regnete. Ich kam an einem Internetcafé vorbei. Für drei Mark konnte ich zwei Stunden ins Netz und im Trockenen sitzen. Und dann hab ich die Gäste im Café gefragt, wie das geht mit dem Internet. Seitdem ist meine Neugier immer weiter gewachsen. Die Leute vom Chaos Computer Club haben mir gezeigt, wie ich eine E-Mail-Adresse kriege, und ich habe  immer wieder Internetforen, Chatrooms und Blogs für Leute besucht, die sich ihre eigene Seite basteln wollen. Und wenn ich nicht mehr weiterwusste, hab ich eben wen im Internetcafé gefragt.


Im Schnitt gehe ich jeden zweiten Tag eine Stunde online. Mehr als einen Euro pro Stunde kann ich aber nicht ausgeben. Mittlerweile gibt es auch in Obdachloseneinrichtungen schon Computer, die am Internet hängen. Und wenn nicht, frag ich auch mal einen Sozialarbeiter, ob ich kurz reindarf. Unter uns Obdachlosen gibt es ja eh einen regen Austausch. Es gilt die Regel: Weißt du etwas, was ich nicht weiß, dann weiß ich etwas, was du nicht weißt. Normalerweise gibt man Adressen unentgeltlich raus, aber nur an Leute, die man kennt. Von mir bekommt jeder mindestens eine Information kostenlos.

Informationen auftreiben 

Manchmal, wenn ich Hunger hab, bitte ich für meine Information schon mal um einen Euro. Das reicht dann für etwas Brot, Wurst oder Streichkäse. Gerade wer neu ist auf der Straße, dem fällt es sehr schwer, Informationen aufzutreiben. Mit meiner Internetseite helfe ich, dieses Problem zu lösen. Und ich hoffe, meine Seite trägt außerdem dazu bei, dass immer mehr Obdachlose ins Internet gehen. Ich schätze, dass die Hälfte von uns noch nie im Internet war. Etwa ein Viertel war schon mal drin, und ein Viertel geht regelmäßig rein. Ich habe vierzig bis sechzig Klicks pro Tag auf das Infoportal www.ohnewohnung-wasnun.de, am Wochenende bis zu hundert.

Da ist Bedarf. Denn es gibt ja viel über Obdachlose, aber nichts für Obdachlose. Deutschlandweite, praktische Auskünfte für Obdachlose liefere nur ich. Ich selbst hab zwar den sehnlichen Wunsch, an einem Ort, wo ich mich wohlfühle, sesshaft zu werden. Und für eine Frau und für ein Kind zu leben. Rechtschaffen. Und ich möchte gern mit Randgruppen arbeiten, mit Flüchtlingen oder Obdachlosen, denn da kenne ich mich aus. Aber ich bin 45 Jahre alt und seit fast 25 Jahren wohnungslos und die Versuche, mich niederzulassen, sind immer gescheitert, da ist bei mir eine Sicherung kaputtgegangen. Ich habe außerdem Angst, wieder zu scheitern. Das Internet ist für mich wie mein eigenes Wohnzimmer: Ich kenn mich dort aus. Ich kann dort tun und lassen, was ich möchte. Sonst hab ich keine Heimat mehr.


Der Artikel stammt aus dem Buch "Arme habt ihr allezeit. Vom Leben obdachloser Menschen in einem wohlhabenden Land", herausgegeben von der Evangelischen Obdachlosenhilfe e.V. Das Buch ist in der "edition chrismon" erschienen und kann im chrismon shop für 19,90 Euro bestellt werden.