UNO und G20 - weit weg vom Menschen?

UNO und G20 - weit weg vom Menschen?
Bei den UN sind alle dabei, bei den G20 bestimmen die reichen Nationen den Kurs der Weltwirtschaft. Beide Institutionen tagen derzeit - weit weg von Deutschland und vom normalen Bürger. Warum diese große internationale Bühne auch etwas mit einfachen Menschen zu tun hat, erklärt Pfarrer Jürgen Reichel, Leiter des Referats "Entwicklungspolitischer Dialog" beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) in Bonn.
24.09.2009
Die Fragen stellte Ulrich Pontes

evangelisch.de: Die UNO-Generalversammlung tagt in New York, alle Welt hat auf die Reden von Barack Obama, Muammar al-Gaddafi und Mahmud Ahmadinedschad geblickt. Aber hat die sonstige Diskussion dort, die abseits dieser prominenten Auftritte stattfindet und immerhin über 160 Tagesordnungspunkte umfasst, eigentlich nennenswerte Auswirkungen für die Menschen?

Jürgen Reichel: Den Vereinten Nationen gelingt es immer weniger, das Heft des Handelns zu übernehmen. Wir müssen feststellen, dass einige wirtschaftlich und politisch starke Länder - in der Vergangenheit nicht zuletzt die USA - systematisch darauf hingearbeitet haben, die Vereinten Nationen zur Wirkungslosigkeit zu verdammen.

evangelisch.de: Fast gleichzeitig findet in Pittsburgh der G20-Gipfel statt, wo die starken und reichen Nationen unter sich sind. Dort wird, anders als bei der UNO, auch Angela Merkel anwesend sein. Ein Symptom dafür, wo wirklich noch etwas zu bewegen ist?

Reichel: Es stimmt: Je mehr Entwicklungsländer die UNO-Versammlungen in New York als Forum genutzt haben, um ihre Ansprüche anzumelden, desto mehr haben die Industrieländer ihre eigenen Clubs gegründet, die die "harten" Politikfelder beackern - Weltbank und Internationaler Währungsfonds für Finanzfragen, die Welthandelsorganisation WTO als treibende Kraft für die Globalisierung oder die G7/G8/G20, um wirtschaftliche Leitvorstellungen durchzusetzen. Den UN bleiben "weiche" Themen: Sozial- und Umweltfragen, Menschenrechte. Das wirft ein katastrophales Licht auf Nordamerikaner, Europäer oder Japaner. Wenn sie nun auf internationalem Parkett ihre Sorge um Klima, Umwelt oder weltweite Armut vortragen, klingt das für viele Menschen aus den anderen Ländern zynisch.

"Den Unbeteiligten wird signalisiert: Ihr seid irrelevant"

 
evangelisch.de: Sind die G20 also nicht wirklich legitimiert?

Reichel: Es ist eine vertrackte Angelegenheit. Natürlich macht es grundsätzlich Sinn, dass wichtige Akteure in bestimmten Fragen die Initiative ergreifen. Die G8 haben ihre Legitimität verloren, spätestens nach der furchtbaren Finanzkrise. Die konnte ja - wenn auch nicht mit Datum - ein Anfänger des Volkswirtschaftsstudiums voraussagen. Die Industrieländer haben es also nicht zuwege gebracht, eine stabile Wirtschaftsordnung auf die Beine zu stellen. Nun suchen sie die Rettung in der Erweiterung. Tatsächlich vereinen die G20 mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung und über 80 Prozent der globalen Wirtschaftskraft. Damit haben lateinamerikanische, asiatische und auch einige muslimisch geprägte Länder Eingang in die inneren Zirkel gefunden. Man kann aber nicht behaupten, dass diese Schwellenländer das Interesse ihrer Regionen vertreten. Südafrikas exportorientierte Wirtschaft etwa wird zu einem Riesenproblem für Produzenten in ganz Afrika. Die restlichen 180 Länder der Erde können nur mit Misstrauen verfolgen, wie über sie mitentschieden wird, ohne dass sie befragt werden. Ihnen wird signalisiert: Ihr seid irrelevant.

evangelisch.de: Hat das, was in solchen internationalen Treffen beschlossen wird, auch Auswirkungen auf Christen, auf Kirchen, auf deren Engagement?

Reichel: Definitiv! Ich kann nur jeder Partnerschaftsgruppe in den Kirchen raten, diese Einflüsse mit den Partnerkirchen beispielsweise in Indonesien, Tansania oder Brasilien durchzubuchstabieren: Warum werden in Westpapua plötzlich riesige Palmölplantagen angelegt und immer neue Bodenschätze erschlossen? Geht das alles mit rechten Dingen zu; wer hat auf wen Einfluss genommen, wer zieht Profit daraus? Haben die angeblichen Spannungen zwischen den Religionen - Muslimen und Christen - in Indonesien nicht ganz andere Gründe als die Glaubensunterscheide? Hält die Abholzung des Regenwaldes in Brasilien unvermindert an - welche Interessenkoalitionen gibt es? Warum werden kirchliche Mitarbeiter bedroht, wenn sie sich in Umwelt- oder Menschenrechtsfragen engagieren? Warum seufzen die Kirchen in Afrika weiter unter der Last, einen Großteil der medizinischen Infrastruktur erbringen zu müssen?

Wenn man anfängt, nachzufragen, stößt man oft genug auf Wirtschaftsinteressen der reicheren Industriestaaten, die die internationalen Regeln so festlegen, dass sich genau das lohnt: nachwachsende Rohstoffe zur Energiegewinnung in Indonesien zu pflanzen, das Amazonasgebiet abzuholzen oder die medizinische Versorgung in den Tropenländern zu vernachlässigen. Das soll nicht heißen, dass alle Probleme der Entwicklungsländer von den reicheren Ländern versucht werden oder dass Investitionen oder wirtschaftliche Interessen immer schädlich sind! Aber es sind in den G8 oder G20 keine Mechanismen angelegt, die darauf achten, wie wirtschaftliche Interessen sozial und umweltverträglich ablaufen.

"Politiker hören zu, wenn Kirchen etwas wollen"


evangelisch.de:
Spielen die Kirchen da irgendeine Rolle, oder haben sie ohnehin keinerlei Einfluss auf das, was auf der Ebene supranationaler Institutionen verhandelt und beschlossen wird?

Reichel: Es gibt zwei Gefahren: dass wir uns als Kirchen überschätzen - und dass wir uns unterschätzen. Beides ist gleich lähmend. Überschätzung erleben wir beispielsweise manchmal bei Partnerkirchen in Afrika oder Asien: Die evangelischen Kirchen in Deutschland müssten nur wollen, dann könnten sie den Lauf der Dinge sofort verändern. Unterschätzung wiederum begegnet uns oft in Deutschland selbst: Gegen die "große" Politik könne man nichts tun. Unsere Erfahrung ist, dass Spitzenpolitiker in Deutschland sehr aufmerksam zuhören, wenn Kirchen entschieden etwas wollen - vor allem wenn es nicht Lobbyarbeit für sie selber ist, sondern für andere.

Ein Beispiel ist der G8-Gipfel in Heiligendamm 2006. Im Lauf der Vorbereitung hat die deutsche Regierung die Agenda nach und nach verändert. Standen am Anfang Investitionsschutzabkommen - also Interessen der deutschen Wirtschaft - im Mittelpunkt, hat die Bundeskanzlerin am Ende die andern Staatschefs zu verheißungsvollen Initiativen im Klimaschutz und der Aids-Bekämpfung bewegen können. Das ist nicht 1:1 kirchlichen Initiativen geschuldet, aber alleine und in Verbindung mit anderen Nichtregierungsorganisationen haben wir im Vorfeld von Heiligendamm deutlich gemacht, dass Zukunftsaufgaben aus kirchlicher Sicht weltweite Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung sind. Auch spielt eine große Rolle, dass Kirchengemeinden diese Anliegen mittragen. Wenn etwa beim Kirchentag in Köln und in 3.000 Gemeinden während der Eröffnung des G8-Gipfels "8 Minuten für Gerechtigkeit" gebetet wird, beobachtet das auch eine deutsche Regierung. Und generell gilt: Christlich motiviertes Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung prägt das Grundbewusstsein unserer Bevölkerung mit - das dürfen wir nicht vergessen.

evangelisch.de: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten für die aktuellen Treffen - was würden Sie dort gern angesprochen oder vereinbart sehen?

Reichel: Dass diejenigen, die sich dort treffen, sich nicht davon leiten lassen, wie potentielle Wähler und Wählerinnen in der Heimat ihre Initiativen aufnehmen, sondern wie sie das, was sie tun und beschließen, den Benachteiligten und der Natur zugute kommt.