Beziehung im Dauerlauf: Ein Morgen in der Pflege

Foto: epd-bild/Thomas Lohnes
Eine Krankenschwester hält die Hand einer Bewohnerin auf der Demenzstation des Pflegeheims "Haus Saalburg" in Frankfurt am Main.
Beziehung im Dauerlauf: Ein Morgen in der Pflege
Der Stress ist groß. Handwerker verdienen besser. Eine überbordende Bürokratie kostet Zeit, die Pflegekräfte wie die Bremerin Kirstin Osmer (49) lieber für die Arbeit am und mit dem Patienten investieren würden. Trotzdem bereut Kirstin Osmer ihre Berufswahl nicht. Das gilt auch nach einem Vormittag, der manchmal mehr einem Dauerlauf als einer Pflegetour ähnelt.
25.02.2014
epd
Dieter Sell

6 Uhr: Vor ihrer Frühschicht beim ambulanten Pflegedienst des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) braucht Kirstin Osmer Zeit für sich. "Ohne Frühstück geh' ich nicht aus dem Haus", sagt die examinierte Pflegekraft, die seit sechs Jahren beim ASB arbeitet. Zwei Scheiben Toast und heißer Kaffee. Eine knappe Dreiviertelstunde später startet sie zum ersten Kunden. Heute Vormittag stehen mehr als zehn Adressen auf ihrer Liste. Die Schlüssel für die Wohnungen hat sie bereits in der Tasche.

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6.48 Uhr: Kirstin Osmer klingelt an der Tür von Ludger Westermann, der einen Schlaganfall erlitten hat. Sie schließt auf, ruft "Guten Morgen". Labrador-Hündin Paula begrüßt sie an der Tür. Aus dem Bett helfen, Strümpfe und Schuhe anziehen, im Bad unterstützen - Ludger Westermann macht so viel wie möglich selbst. So hat er sich nach dem Schlaganfall wieder ins Leben zurückgekämpft. "Bewegen, sprechen, von allein kommt da gar nichts wieder", erinnert sich der 58-Jährige. "Intensives Training oder man lallt sein Leben lang." Westermann hat sich für intensives Training entschieden. "Traumhafte gute Therapeuten" hätten ihm geholfen. "Nils", der Name seines jüngsten Sohnes, sei das erste Wort gewesen, das er wieder sprechen konnte. "Das war toll" sagt Westermann, die Stimme gebrochen.

7.23 Uhr: Kirstin Osmer muss wieder los, wie überall wird vorher noch die Pflege in einer Mappe dokumentiert. Wie rauskommen aus einem solchen Gespräch? "Das ist schon eine Gratwanderung", meint die Pflegerin. Manchmal geht sie mit einem schlechten Gefühl, weil die Zeit nicht reicht. Hier waren es 35 Minuten, für die der ASB 19,88 Euro bekommt. Jede Anfahrt vergütet die Pflegeversicherung mit 3 Euro. Der Schornsteinfeger nimmt 8,20 Euro.

Osmer ist auch Beichtmutter

Osmer hat eine feste Tour. Sie weiß, was die Leute bewegt. Manchmal ist sie nicht nur Pflegerin, sondern auch Beichtmutter. Beziehung im Minutentakt, denn die Kassen zahlen nicht für das Gespräch, nicht für das Zuhören. Doch gerade das ist es, was sich manche Kunden am meisten wünschen.

Bis 8 Uhr: Kompressionsstrümpfe anziehen bei Hans-Ludwig Kunze. Gar nicht einfach: Die Strümpfe sitzen knalleng, denn sie sollen Schwellungen am Bein vermeiden. Um sie überzustreifen, ist Kraft nötig, die mit Gefühl eingesetzt werden muss. Falten sind tabu, die Haut darf auf keinen Fall verletzt werden. Hans-Ludwig Kunze hat besondere Strümpfe, Füßlinge, die jeden Zeh einzeln schützen. Kirstin Osmer muss das in zehn Minuten schaffen. Klappt routiniert. Die Kasse vergütet 7,83 Euro.

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8.05 Uhr: Marieluise Finke wohnt in einer Seniorenresidenz. Der ASB kommt zu ihr, um beim Waschen zu helfen und das Frühstück vorzubereiten. Während Kirstin Osmer in der Dusche assistiert, wird das Kaffeewasser heiß. Die "große Morgentoilette", wie es abrechnungstechnisch heißt, nutzen die beiden Frauen zum Klönen. "Wir haben uns immer viel zu erzählen", sagt die 88-Jährige. Morgentoilette, Insulin spritzen, Frühstück zubereiten: 37 Minuten. Das macht 26,41 Euro.

Immer kommt Kirstin Osmer mit einem Lachen in die Wohnungen. "Ich würde den Beruf wieder wählen", sagt sie. "Man kriegt so viel zurück: Danke und Komplimente." Beispielsweise von Elvira Sennholz, bei der Kirstin Osmer wenig später erneut Strümpfe anzieht. "Sie kann das am besten", lobt Frau Sennholz und setzt nach: "Die macht nur gute Sachen."

In der nächsten halben Stunde besucht Kirstin Osmer drei weitere Kundinnen. Alles eng getaktet. 9.30 Uhr öffnet sie die Tür zur Wohnung eines taubstummen Ehepaares. Die Wände teilweise verschimmelt, kein Fenster offen, Hitze. Der Frau geht es schlecht. Waschen im Pflegebett, Intimpflege, Darm- und Blasenentleerung, Lagern und Betten - alles in 26 Minuten. 17,68 Euro. Als Kirstin Osmer die Wohnung verlässt, steht ihr der Schweiß auf der Stirn. Unten auf dem Parkplatz legt sie die erste Pause ein. Eine Zigarettenlänge.

53 Minuten vergütet mit 29,92 Euro

10.10 Uhr: Edith Reinke ist schwerstpflegebedürftig, ihr Mann Rudi versorgt sie rund um die Uhr. Seit fünf Jahren liegt sie im Bett, unbeweglich, nur noch Haut und Knochen. Mittlerweile ist Rudi selbst Experte in Sachen Dekubitusprophylaxe, hat die Matratze so gestaltet, dass Druckstellen möglichst entlastet werden. "Ich bin praktisch veranlagt", erzählt der ehemalige Küster, wie seine Frau 78 Jahre alt. Waschen, Wundversorgung, Lagern und Betten: Kirstin Osmer steht konzentriert am Pflegebett, versorgt Edith Reinke 53 Minuten. Pflege- und Krankenversicherung vergüten 29,92 Euro.

Nach drei weiteren Adressen hat Kirstin Osmer an diesem Vormittag vier Stunden und 52 Minuten gepflegt. Dazu kommen eine Stunde und 43 Minuten Wegezeiten. Dauerlaufpflege. "Pflege am Limit", mahnen Beschäftigte. Auch Kirstin Osmer hätte gerne kürzere Routen und mehr Zeit. "Dazu die Bürokratie, um alles zu dokumentieren, das ist schon massiv," kritisiert sie. Trotzdem: Wer gerne mit Menschen arbeite, wer einen abwechslungsreichen Beruf wolle, der sei in der ambulanten Pflege richtig. "Sonst wäre ich nicht mit so viel Begeisterung dabei."