Dorothea Sattler: "Jede Tradition ist reformbedürftig"

Dorothea Sattler
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Dorothea Sattler
Dorothea Sattler: "Jede Tradition ist reformbedürftig"
Sie ist "die" römisch-katholische Ökumene-Expertin in Deutschland: Dorothea Sattler, Professorin an der Universität Münster. Im Interview mit evangelisch.de verrät sie, was sie von den Protestanten gelernt hat, welche ökumenischen Impulse sie vom neuen Papst und von der evangelischen Kirche erwartet und was sie vom umstrittenen EKD-Familienpapier hält.

Frau Professor Sattler, Sie sind "die" Ökumene-Expertin der römischen Katholiken in Deutschland. Seit langem engagieren Sie sich in vielen Gremien für ein besseres Miteinander mit den Protestanten. Sind Sie durch Ihre Ökumene-Arbeit "evangelischer" geworden?

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Dorothea Sattler: Auf jeden Fall! Ich stamme aus einem rein katholischen Milieu und habe das reformatische Gedankengut erst sehr spät – am Ende meiner Studienzeit – kennen und dann auch schätzen gelernt. "Protestantischer" geworden bin ich in der hohen Wertschätzung synodaler Prozesse der Entscheidungsfindung, also unter dem Aspekt: Was alle angeht, sollte auch von allen beraten und entschieden werden. Da haben wir in der römisch-katholischen Tradition deutliche Defizite durch den Ausschluss nichtordinierter Menschen von Entscheidungsprozessen. Was ja für Frauen besonders wirksam ist.

Wie entwickelt sich die evangelische Kirche aus Ihrer Perspektive?

Sattler: Weltweit gesehen habe ich den Eindruck, dass es für die Protestanten – seien es nun die Lutheraner, Anglikaner oder andere – nicht leicht ist, intern ein einheitliches konfessionelles Bekenntnis weltweit durchzuhalten. Vor allem in Fragen der Ethik, z. B. beim Umgang mit Homosexualität. Da geht jeweils ein Riss durch die einzelnen reformatorischen Weltbünde. Auch in Deutschland tut man sich schwerer, mit einer evangelischen Stimme zu sprechen, sich auf gemeinsame ethische Prinzipien zu verständigen.

Stehen die Protestanten vor ähnlichen Herausforderungen wie die Katholiken – oder vor ganz anderen?

Sattler: Hier in Deutschland müssen sich beide große Kirchen fragen: Wie gehen wir um mit der Überalterung der Gemeinden? Wie können wir junge Leute für den christlichen Glauben begeistern – vielleicht sogar für den Pfarrdienst? Der Priestermangel gerade auf römisch-katholischer Seite ist ja offenkundig. Aber da gibt es in den Kirchen unterschiedliche Lösungsstrategien.

"Ich erlebe die reformatorische Tradition offener, freier den Herausforderungen der Gegenwart gegenüber"

Welche sind das?

Sattler: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die reformatorischen Kirchen dazu entschieden, Frauen zu ordinieren. Wir in der römisch-katholischen Tradition stehen da noch vor offenen Fragen. Da gab es ja schon im 16. Jahrhundert unterschiedliche Vorentscheidungen – zum Beispiel mit Blick auf die Ehelosigkeit im ordinierten Amt. Nach meiner Wahrnehmung sagt man im reformatorischen Bereich: "Das Wichtigste ist, dass das Evangelium verkündigt wird – egal durch wen, egal in welcher Lebensform er oder sie lebt." Da erlebe ich die reformatorische Tradition offener, freier den Herausforderungen der Gegenwart gegenüber.

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Das hat auch mit ihrer kleinteiligeren Struktur zu tun.

Sattler: Natürlich. Sie sind landeskirchlich verfasst, während die römisch-katholische Tradition dazu neigt zu denken: "Wenn wir das hier ändern, dann müssen wir das weltweit ändern." Im globalen Kontext sind Reformen ja sehr viel schwerer durchzusetzen als in kleineren regionalen Bereichen. 

Lassen Sie uns auf die Entwicklung der deutschen Ökumene schauen: Wo haben sich Protestanten und römisch-katholische Kirche erfolgreich angenähert?

Sattler: Gelungen ist auf jeden Fall die Erkenntnis, dass jede christliche Tradition reformbedürftig ist. Wir müssen alle zu dem einen Evangelium umkehren! Also keine "Rückkehr-Ökumene" in das institutionelle Gefüge der Anderen, sondern gemeinsame Hinkehr zum Evangelium. Das scheint mir bei allen völlig unbestritten. In diesem Zusammenhang ist das gemeinsame Gedächtnis der einen Taufe sehr wichtig.

Was steht noch aus? Wo gibt es Kontroversen?
Sattler: Wir wissen nicht, auf welche Gestalt der Einheit wir uns hinbewegen. Wir sagen zwar: "Wir suchen die sichtbare Einheit der Kirchen." Aber was heißt das? Welche Form könnte diese sichtbare Einheit haben? Welche Rolle könnte da der Bischof von Rom spielen, die für alle akzeptabel ist?

"Wie will die evangelische Seite jemals einheitlich beschließen – welche Rolle der Bischof von Rom spielen sollte?"

Da gibt es viele Ideen und viele Konferenzen ...

Sattler: Aber wer da welcher Lösung zustimmen könnte, ist völlig offen. Zumal es ja auf evangelischer Seite große Unterschiede gibt: Einerseits gibt es zentral gelenkte Gebilde wie den Lutherischen Weltbund. Aber schon wenn man auf den Reformierten Weltbund schaut – oder gar in die freikirchliche Tradition, wo jede Gemeinde für sich entscheidet – stellt sich die Frage: Wie will die evangelische Seite jemals einheitlich beschließen – welche Rolle der Bischof von Rom spielen sollte? Weitere Fragen sind etwa, wie die kirchlichen Ämter geordnet sind, wie die einzelnen Menschen ins Amt kommen, welche Bedeutung das Bischofsamt haben soll. Also in Sachen sichtbare Einheit der Kirche sind noch alle Fragen offen!

Ökumeniker wie Sie haben in langen Gesprächen wichtige Konsenspapiere erarbeitet. Werden die von den Kirchenleitungen genügend beachtet und umgesetzt?

Sattler: Vieles läuft leider in einer Parallelwelt nebeneinander her. Zum Beispiel bei der Frage, ob die römisch-katholische Seite anerkennen kann, dass auch die evangelischen Amtsträger in der direkten Nachfolge der Apostel stehen und somit auch stiftungsgemäß Abendmahl feiern können. Dazu hat der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen in acht Jahren drei Bände erarbeitet. Diese Ergebnisse werden kirchenamtlich leider nicht ausreichend gewürdigt. Vor allem von römisch-katholischer Seite bräuchte es da dringend eine Rezeption.

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Welche ökumenischen Impulse gegenüber den Protestanten sind vom neuen Papst Franziskus realistischerweise zu erwarten?

Sattler: Papst Franziskus hat sich in der Frage der "Kirchlichkeit" der reformatorischen Kirchen bisher eines theologischen Urteils enthalten. Er hat einen anderen Ansatz: Er geht vom gelebten Glauben aus. Mir scheint: Seine Offenheit ist groß, erstmal ohne Wertung wahrzunehmen, was bei den anderen geschieht. 

Innerkatholisch hat sich Franziskus entschieden, eine offene Debatte anzustoßen.

Sattler: Und zwar eine Debatte, die angstfrei stattfinden soll! Das ist ja schon mal ein wichtiges Signal –  auch für die Ökumene: Wir haben jetzt eine Atmosphäre, in der der Papst das offene Wort schätzt, den geschwisterlichen Austausch! Das geht schon in die richtige Richtung. Aber mit Blick auf konkrete Ergebnisse der römisch-katholischen Reformprozesse wagt noch niemand fundiert eine Prognose.

"In dem Familienpapier haben sich einige falsche Unterstellungen gegenüber dem Katholizismus eingeschlichen. Schade, dass wir nicht vorab konsultiert wurden!"

Welche Impulse erwartet sich Ihre römisch-katholische Seite von den Protestanten?

Sattler: Auch einzelne deutsche Landeskirchen oder EKD-Gremien, die momentan mit Alleingängen vorpreschen, sollten anerkennen, dass sie in der Verantwortung stehen für ein einheitliches evangelisches Profil weltweit. Sie sollten nicht ohne Not einen Konsens aufkündigen. Oder  zumindest zu erkennen geben: "Das ist unsere Einsicht, aber wir wissen auch, dass es innerhalb unserer Konfession andere Stimmen gibt."

Sie meinen die EKD-Orientierungshilfe zu Familie, Ehe und anderen Lebensformen – und den Beschluss der hessen-nassauischen Landeskirche zur Gleichbehandlung homosexueller Partnerschaften?

Sattler: Ja. Ich habe die EKD-Orientierungshilfe insoweit gelobt, als sie eine nüchterne Situationsanalyse vorlegt. Aber wir würden daraus andere Schlüsse ziehen: Aus römisch-katholischer Sicht ist der biblischen Schöpfungsordnung zu entnehmen: Die Menschen sollen sich auf eine Beziehung hinorientieren, die auf Nachkommenschaft angelegt ist. Zudem haben sich in dem Papier einige falsche Unterstellungen gegenüber dem Katholizismus eingeschlichen. Schade, dass wir nicht vorab konsultiert wurden!

Wenn Sie sich eine bessere Konsultationskultur wünschen: Wie sähe denn für Sie der ideale Endzustand von christlicher Ökumene aus?

Sattler: Ich kann mir nicht für alle Zeiten vorstellen, dass getaufte Menschen sich am gleichen Ort in unterschiedlichen steinernen Gebäuden treffen. Ich suche nach einem – biblisch begründeten – Modell gelebter Gemeinschaft von Glaubenden, die gemeinsam Gottesdienst feiern, gemeinsam diakonische Dienste tun, gemeinsam Zeugnis geben von Christus Jesus. Nur durch versöhnte Gemeinschaft können wir glaubwürdig auftreten gegenüber denen, zu denen wir als Zeugen gesandt sind! Mir schwebt also eine Gemeinschaft der Getauften am Ort vor. Was nicht ausschließt, dass wir uns weiterhin mit unseren unterschiedlichen Spiritualitäten gegenseitig bereichern. Aber wir sollten am Ende alles gemeinsam tun! Das wäre mein theologisches Ideal.