Lampedusa bleibt auf St. Pauli

Matratzenlager auf dem Kirchenboden
Foto: epd-bild/Julia Reiss
Matratzenlager in der Kirche.
Lampedusa bleibt auf St. Pauli
Gefilmte Solidarität: Ein Dokumentarfilm zeigt, wie eine evangelische Gemeinde und Kiezbewohner im Hamburger Stadtteil St. Pauli humanitäre Hilfe für afrikanische Flüchtlinge leisten. Der Film hat Premiere zu einer Zeit, in der die Bootsflüchtlinge vor der Insel Lampedusa wieder in den Schlagzeilen sind.

Die Leinwand zeigt den Blick in einen Kirchensaal, gefilmt von der Empore aus. Auf dem Holzboden der Kirche liegen Menschen unter karierter Bettwäsche, eine Matte neben der anderen. Über allem schwebt eine große Jesus-Figur. Die nächste Einstellung zeigt den Kirchgarten. Wäsche flattert an Leinen, ein Zelt steht in der Mitte und ein Plakat mit der Aufschrift Embassy of Hope, Botschaft der Hoffnung, ist vor dem Hintereingang aufgespannt. Dann folgen Filmpassagen, körnig und wacklig, sie sind aufgenommen mit einem Handy. Ein überfülltes Boot ist zu sehen, das schon fast umzukippen droht, darin Männer, Frauen und Kinder.

###mehr-galerien###"Lampedusa auf St. Pauli“ heißt der Film des Regisseurs Rasmus Gerlach, der auf dem Hamburger Filmfest uraufgeführt wurde. Seit Mai dieses Jahres hat Gerlach in der St. Pauli-Kirche im gleichnamigen Hamburger Stadtteil gedreht. Dort, wo die Pastoren Sieghard Wilm und Martin Paulekun ihre Kirche für eine Gruppe Westafrikaner geöffnet haben, die von Libyen aus über die italienische Insel Lampedusa bis nach Hamburg geflüchtet sind. Rund 80 der 300 Menschen zählenden Gruppe schlafen, essen und lernen seitdem in der Kirche. Die übrigen leben Kirchengemeinden der Nordkirche und Diakonie und in Moscheen in ganz Hamburg. Während die Hamburger Landesregierung mit dem SPD-geführten Senat die Flüchtlinge prüfen und womöglich abschieben möchte, leistet die Gemeinde humanitäre Nothilfe.

###mehr-artikel###Fußballspiele sind eine Art Grundmelodie des Films. Immer wieder zeigt der Regisseur die Flüchtlinge beim Kicken auf dem Trainingsplatz des FC St. Pauli, die ausgelassene Stimmung ist ein Kontrast zu den ernsten Bildern der Flucht. Dann wieder können die Zuschauer Alltägliches verfolgen: Zähneputzen im engen Bad, das Abwaschen von Bergen von Geschirr in der Gemeindeküche, Bügeln zwischen den Kirchenbänken. Jeden Morgen packen die Afrikaner ihre Habseligkeiten zusammen, verstauen sie auf der Empore, damit tagsüber Platz ist im Kirchenschiff, und holen sie abends wieder herunter. Die Szenerie gleicht der eines großen Ferienlagers.

Seit Mai dreht der Regisseur in der St. Pauli-Kirche

26 zumeist sozialkritische Filme hat der 50-jährige Gerlach bislang gemacht, jüngst kam seine Dokumention "apple stories“ über die Produktionsbedingungen des Konzern in die Kinos. Gerlach, der auf St. Pauli wohnt, fasste schnell den Entschluss,  mit seiner Kamera in die Kirche zu gehen, um mit einem Film die Pastoren zu unterstützen. Bislang hat er keine finanzielle Unterstützung, ein Crowdfunding-Aufruf im Internet läuft nur schleppend an.

###mehr-info###Die Afrikaner sind die Hauptpersonen des Films. Doch Gerlach porträtiert sie nur oberflächlich. Er fragt nach Narben in den Gesichtern und erfährt, dass sie die Stammeszugehörigkeiten repräsentieren. Als Chronist begleitet er, was in der Kirche geschieht, doch weder recherchiert er die rechtlichen Hintergründe, noch fragt er die Flüchtlinge nach ihren Familien und Plänen. Doch vielleicht ist die emotionale Komponente erst einmal wichtiger als die politischen Fakten.

Hingegen gelingt es Gerlach, die authentische Hilfsbereitschaft der Menschen einzufangen: Da ist Kiez-Unikat Hotte, von Beruf Türsteher, der Nachtwachen organisiert, seit es anonyme Drohungen gegeben hat. Brummig erklärt der bullige Mann in die Kamera: "Ich bin hier aufgewachsen und in den Kindergarten gegangen. Ich sorge dafür, dass den Flüchtlingen nichts passiert.“ Oder die pensionierten, Grundschullehrerinnen, die Deutsch unterrichten. Und Fernsehkoch Tim Mälzer hat, so erfährt der Zuschauer, Lebensmittel im Wert von 2500 Euro vorbei gebracht.

Pastor Sieghard Wilm (mit grauer Jacke), Andreas aus Ghana - ein Sprecher der Flüchtlinge (mit buntem Schal), Filmer Rasmus Gerlach (rechts)
Für eine Fotoausstellung, die die Pastoren beim FC St. Pauli initiierten, werden die Exponate von den Flüchtlingen über die Reeperbahn getragen, vorbei an Nachtclubs und Touristenrestaurants. Zwei Welten in einer Kameraeinstellung, und dann sagt Pastor Wilm in die Kamera: "Die St. Paulianer sind nicht anfällig für Rassismus. Es sind großartige Menschen.“ Noch einmal werden beklemmende Handyvideos gezeigt. Während einer Lesung, die das Ensemble des Thalia-Theaters aus Solidarität spontan in der Kirche initiierte, flimmern Bilder der Boote über eine Leinwand.

"Work in progress" – das Filmprojekt geht weiter

Doch zu viele Fragen bleiben offen: Wie ist der rechtliche Hintergrund, vor dem die Pastoren Wilm und Paulekun ihre Hilfe leisten? Gibt es Gespräche der Nordkirche mit dem SPD-Senat? Die afrikanischen Flüchtlinge verlangen, als Gruppe in der Bundesrepublik bleiben zu dürfen. Die Grundlage böte Paragraf 23 Aufenthaltsgesetz, doch der Senat verweigert bislang eine Sonderregelung. „Solange die Politiker nicht in die Kirche kommen, sind sie für meinen Film nicht maßgeblich“, erklärt Gerlach nach der Vorführung. "Mich interessiert, was in dieser Kirche los ist."

###mehr-links###Die Realität schreibt den Film fort. Die Situation auf St. Pauli hat sich mit Beginn der kalten Jahreszeit zugespitzt. Die Pastoren wollten Container-Unterkünfte auf dem Kirchengelände aufstellen, denn inzwischen ist es zu kalt auf den Holzfußboden in der Kirche. Doch vom SPD-Innensenator Michael Neumann gab es bislang keine Genehmigung für den Aufbau. So bleibt auch das Ende der Dokumentation offen, so unbefriedigend es sein mag. In der letzten Einstellung erklärt Pastor Wilm: "Vielleicht bleiben die Flüchtlinge bis Weihnachten bei uns. Dann werden wir in der Kirche die Weihnachtsgeschichte lesen und noch besser verstehen. Denn Jesus war auch ein Flüchtling.“

Regisseur Gerlach hat vor, seine Doku laufend mit neuen Sequenzen zu aktualisieren. "Work in progress“, sagt der Filmemacher ohne eine Spur Nervosität, dass seine Dreharbeit niemals fertig werden könnten. Der nächste filmreife Termin steht schon fest: Zur Soli-Demonstration am 2. November vorm Hamburger Rathaus werden mehrere tausend Teilnehmer erwartet. Lampedusa wird, so scheint es, die Menschen auf St. Pauli noch länger begleiten.

"Lampedusa auf St. Pauli“ läuft bei den Nordischen Filmtagen (30. Oktober bis 3. November in Lübeck) und am 26. November im Lichtmess-Kino in Hamburg.