Einfach mal die Kirche im Dorf lassen

Kirche im Dorf
Foto: Hans Rudolf Schulz/laif
Seit Jahrunderten ein gewohntes Bild: Die Kirche steht im Zentrum einer Gemeinschaft.
Einfach mal die Kirche im Dorf lassen
Bleibt die Kirche im Dorf - oder nicht? Früher entstanden mit dem Bau von Kirchen ganze Städte. Heute wird in der Mitte gern Einkaufszentren Platz gemacht. Neue Kirchen werden dabei oftmals an den Rand gedrängt. Stadtentwicklerin Kerstin Gothe sagt, die größte Herausforderung sei, bestehende Kirchen zu halten und mit Leben zu füllen.
24.05.2013
evangelisch.de

Welche Rolle spielt ein Kirchenbau überhaupt in einer Stadt?

Kerstin Gothe: Über die Jahrhunderte hinweg haben Kirchenbauten eine sehr große Rolle innerhalb der Städte gespielt. Sie waren oft sogar Ausgangspunkt für mittelalterliche Stadtgründungen und wurden Mitten im Herzen der Stadt angelegt, etwa am großen Marktplatz, wie in der Barockstadt Ludwigsburg, wo sich die evangelische und katholische Kirche am Marktplatz gegenüber stehen. Diese sehr herausgehobene Rolle hatten die Kirchen auch noch im 19. Jahrhundert bei den ersten Stadt- und auch Dorferweiterungen. Schrittweise hat sich das verändert. So hatte beispielsweise Kaiser Wilhelm in Berlin seinerzeit bei der Stadterweiterung am Kreuzberg verlangt, dass die Kirche nicht weiterhin ein herausgehobener Bau sein solle, sondern in die Reihe der Wohnbauten treten müsse. Aber auch im 20. Jahrhundert spielten Kirchen noch häufig eine herausragende Rolle im Stadtbild.

Erst mit den Trabantenstädten der 1960er/70er Jahre veränderte sich diese Rolle. Die Wohnhäuser wurden höher, als es die Kirchen waren. Das Einkaufszentrum erhielt seinen festen Platz in der Mitte des neuen Stadtteils. Die Kirchen lagen häufig nur noch am Rande eines Grünzugs oder verschwanden zwischen den Hochhäusern, wie etwa im Märkischen Viertel in Berlin.

Wird das Sprichwort "Die Kirche im Dorf lassen" langsam obsolet?

Gothe: Nein, das glaube ich nicht. Zwar gibt es einen Rückzug aus der Fläche: Heute ist ein Pfarrer nicht allein für ein Kirchengebäude und die zugehörige Gemeinde zuständig, sondern für drei oder vier Kirchen und das möglicherweise in verschiedenen Dörfern oder Quartieren einer Stadt. Auffallend ist, dass die Kirchen mittlerweile auch von Menschen instand gehalten werden, die sich gar nicht der Kirche zugehörig fühlen.

"Neuere Stadtteile haben wieder Kirchen."

Wie konnte es geschehen, dass neue Kirchen an den Rand gedrängt wurden?

Gothe: Es gab einfach viele Kirchen: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die traditionell evangelisch und katholisch geprägten Städte oder Landstriche  durch Flüchtlingsbewegungen und die Folgen des Krieges stark konfessionell durchmischt. So entstanden in katholischen Teilen Baden-Württembergs protestantische Gemeinden, im protestantischen Schleswig-Holstein wurden katholische Kirchen gebaut. Die Grundstücke für Kirchengebäude wurden dabei oft pragmatisch ausgewählt. Es kam in den 1970er/80er Jahren auch vor, dass zwar Kirchengrundstücke ausgewiesen wurden, diese aber von der Kirche nicht in für einen Bau in Anspruch genommen wurde.

Mittlerweile lässt sich ein neuer Trend beobachten: Neuere Stadtteile haben wieder Kirchen – und beim Kirchenbau wird experimentiert, wie etwa im Freiburger Rieselfeld. Diese Kirche hat einen evangelischen und einen katholischen Raum. Beide lassen sich wiederum zu einer Einheit zusammenschließen. Das finde ich interessant.

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Und welche Bedeutung hat die Kirche für die Gemeinschaft?

Gothe: Kirche ist nicht nur ein Bau, sondern auch eine Institution. Sie ist identitätsstiftend. Stadtplaner und die Stadtpolitik werden sich im Moment darüber bewusst, dass Kirchengemeinden für die Städte eine wichtige Rolle übernehmen: etwa zur Integration von benachteiligten Gruppen, oder indem sie Kindergärten betreiben, indem sie überhaupt als soziale Institution im Quartier vorhanden und tätig sind und damit ehrenamtliches Potential aktivieren.

Wie sieht Ihrer Ansicht nach die Stadt der Zukunft aus: mit oder ohne Kirche?

Gothe: Die Stadt der Zukunft wird Kirchen haben, vermutlich werden es aber weniger sein als heute. Der Unterschied zu früher ist, dass wir künftig nicht nur Kirchen, sondern auch Moscheen und andere Gebetshäuser haben werden.

Die traditionelle Kirche im Quartier hat Zukunft - gerade weil viele andere soziale und auch kommerzielle Einrichtungen mittlerweile aus den Wohnvierteln ausgezogen sind: wie etwa die kleinen Geschäfte, die Bäcker, die Metzger, die Post, die kleine Bank oder der Frisör. Übrig geblieben sind allenfalls der Kindergarten, die Grundschule und die Kirche. Ich glaube, dass die Kirchen eine Reihe von neuen Aufgaben haben, die sie entdecken müssen und sie müssen sich neuen Menschen im Viertel öffnen, nicht nur denen, die sich ihnen ohnehin bereits zugehörig fühlen.

"Für die besten Architekten müsste es Umbau-Institute geben."

Wer kann eigentlich noch Kirchen bauen?

Gothe: Die Kirchen- oder Sakralbauten sind eine der anspruchvollsten Bauaufgaben überhaupt. Das gilt auch für Moscheen. Ein Krankenhausbau oder ein Institutsbau beispielsweise ist etwas völlig anderes – er ist technisch eine Herausforderung. Der Kirchenbau hingegen ist vom Entwurf her sehr anspruchsvoll. Nicht umsonst steht ein hoher Prozentsatz aller Kirchen in Deutschland unter Denkmalschutz. Dies macht deutlich, dass Kirchen ein wichtiger Teil unseres Kulturgutes sind. Früher gab es Kirchbau-Institute an den Architekturfakultäten, sie sind in den 1970er/ 80er Jahren aufgegeben worden. Im Grunde müsste es heute Umbau-Institute geben – auch für Kirchen. Die besten Architekten müssten mit dieser Aufgabe betraut werden.

Was sollten Stadtentwickler beim Neubau berücksichtigen?

Gothe: Das Problem ist, es werden überhaupt kaum noch Neubaugebiete gebaut. Deswegen werden auch weniger Kirchen errichtet. Einerseits spüren wir den demographischen Wandel, also den Bevölkerungsrückgang, andererseits haben wir eine Wohnungsnot in Ballungsräumen, wie in der Berliner Innenstadt oder in Düsseldorf, Stuttgart oder München. Generell aber wir haben in vielen Teilen der Bundesrepublik ein zuviel an Wohnraum. Die Aufgabe der Zukunft wird sein, wie wir mit unseren bestehenden Gebäuden sinnvoll umgehen und räumlich, baulich und sozial neue Lösungen zu finden. Es ist absehbar, dass die Institution Kirche auf längere Sicht nicht mehr alle Gebäude wird unterhalten können.

Stattdessen schießen überall Einkaufszentren wie Pilze aus dem Boden. Sind die Konsumtempel die neue Kirche?

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Gothe: Manchmal kommt es einem so vor. Es gibt Einkaufszentren oder auch Bankgebäude, die in ihrer Formensprache an eine Kirche erinnern. Typologien verschwimmen zunehmend. Wir können daran ablesen, dass es den Wunsch nach einer Architektur mit einer besonderen, den Betrachter beeindruckenden Atmosphäre besteht. Was ich für interessant halte, sind die neuen Sakralbauten oder -räumen: Es entsteht ein Wunsch nach Kirchen, nach sakralen Räumen neuerdings eher an besonders belebten Knotenpunkten: Für Reisende, für Messebesucher werden Räume der Stille eingerichtet, etwa an Flughäfen, in Fußballstadien werden Kapellen eingerichtet, länger bekannt sind die Autobahnkirchen. Sie alle sind nicht mehr einer Gemeinde zugeordnet, sondern dienen dem stillen Gebet oder der Einkehr. Hier entsteht ein neues Bedürfnis nach Sakralräumen. Interessanterweise werden diese oft  von evangelischen und katholischen Christen und auch von Muslimen genutzt.

Kirchenbauten werden manchmal umgesiedelt. Wäre das ein denkbares Modell, kirchenarme Regionen mit Gotteshäusern zu beliefern?

Gothe: Das passiert nur im Ausnahmefall. Es ist selten, dass wirklich ganze Dörfer aufgegeben werden, etwa wenn die Bevölkerung alt wird und stark zurückgeht.

"Durch eine neue Nutzung wird es möglich, den Kirchenbau zu halten"

Wie lassen sich Kirchenbauten im Herzen einer Gemeinschaft halten oder schaffen?

Im Osten der Republik ist beobachtbar, dass in sehr kleinen Gemeinden sich Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen zusammentun und Kirchenbauvereine gründen, um ihre Kirche zu erhalten. Kirchen brauchen neue Zielgruppen. Nehmen Sie beispielsweise die Kirche in Müncheberg, rund 50 Kilometer östlich von Berlin. Der alte Bau, der sehr zerstört war, wird jetzt von einem Betreiberverein bewirtschaftet. Mittlerweile finden wieder Gottesdienste statt oder auch weltliche Veranstaltungen wie Konzerte. In diese Kirche ist sehr geschickt ein weiterer Raum eingebaut worden, in dem die Gemeinde ihre Gemeinderatssitzungen abhält und die Stadt-Bücherei untergebracht ist. Neue Nutzungsformen sind in die Kirche mit eingezogen. Dadurch wird es möglich, den Raum zu halten. Das ist ein Modell von dem ich glaube, dass es Zukunft haben wird. An die Stadtplaner, Kirchen und Pfarrer werden neue Anforderungen herangetragen, um so etwas zu verwirklichen.

Bei evangelischen Kirchen ließe sich ein Raum Tag für Tag anders nutzen. Bei den katholischen Bauten hingegen wird das nicht gehen, weil das katholische Kirchenrecht dies nicht zulässt. Das ist aber eine Möglichkeit, den Raum zu halten, weil die Unterhaltung des Gebäudes sich auf mehrere Schultern verteilt, selbst wenn die Gemeinde schrumpft. Solche Konstruktionen sind sehr kompliziert. Man muss daran arbeiten, bis sie funktionieren und es erfordert viel guten Willen auf allen Seiten. Das geschieht nicht von Heute auf Morgen. Deshalb ist es so wichtig, das man damit frühzeitig beginnt und nicht erst, wenn es bereits durch das Dach reinregnet. Dann ist nämlich Gefahr in Verzug und man muss schnell eine Lösung finden. Diese ist wiederum in vielen Fällen nicht die beste Lösung.