Edgar Selge: "Die Moral der Geschichte hat mich nie interessiert"

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Edgar Selge: "Die Moral der Geschichte hat mich nie interessiert"
Sie gehören zu Weihnachten wie Plätzchen und Lametta: Die stimmungsvollen Märchenfilme, die das Erste alljährlich an den Feiertagen unter dem Titel "Sechs auf einen Streich" zeigt. Dieses Jahr stehen vier Neuverfilmungen auf dem Programm – und wieder sind etliche bekannte Schauspieler mit von der Partie. Den Auftakt macht die sehenswerte Adaption von "Rotkäppchen" (25. Dezember, 15.40 Uhr, ARD) mit Charakterdarsteller Edgar Selge in der Rolle des großen bösen Wolfs. Als einarmiger Kommissar Tauber in der Krimireihe "Polizeiruf 110" bekannt geworden, spielt Selge heute Einzelprojekte von Theater bis Kino. Im Januar 2013 ist er an der Seite seines Sohnes in einem "Tatort" zu sehen.

Herr Selge, in der Märchenverfilmung "Rotkäppchen" spielen Sie den bösen Wolf. Hatten Sie als Kind Angst vor der Figur?

Edgar Selge: Ich hatte Angst vor Hunden, weniger vor dem Wolf. "Rotkäppchen" war auch nicht unbedingt mein Lieblingsmärchen, meine bevorzugten Märchen waren andere.

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Welche denn?

Selge: Mit den Märchen ist es wie mit anderen Dingen auch – zu verschiedenen Zeiten im Leben ändern sich die Interessen. Als Kind mochte ich den "Eisenhans" besonders gerne. Der saß in einem Käfig, wurde vom Königssohn befreit und nahm ihn mit in den Wald. Das fand ich aufregend, darin steckte für mich die Attraktivität des Erwachsenwerdens und gleichzeitig die Angst davor. Heute dagegen schlage ich immer erst das Märchen über die Blutwurst und die Leberwurst auf, seit ich als Erwachsener bei einem Grimm-Abend mit dem Schauspieler Bernhard Minetti davon gehört habe.

In dem Text geht eine böse Blutwurst einer armen Leberwurst ans Leder. Und was hat Sie nun an der Rolle als Wolf gereizt?

Selge: Ich bekam zunächst eine Anfrage: Die Drehbuchautoren wollten wissen, ob ich gerne den räudigen Wolf spielen würde, weil sie der Ansicht waren, dass das so gut zu mir passt, dass sie mir die Rolle gerne auf den Leib schreiben wollten. Das fand ich sehr lustig.

Haben Sie am bösen Wolf, der Rotkäppchen nachstellt und die Großmutter frisst, auch eine liebenswerte Seite entdeckt?

Selge: Durchaus. Ich finde, das ist ein alter Wolf, der ausgestoßen ist aus seinem Rudel und für den es schwer ist, überhaupt noch jemanden zu finden, dessen Vertrauen er gewinnen kann, damit er ihn dann fressen kann. Das ist doch eine nachvollziehbare Situation, oder? (lacht)

"Die Moral von der Geschicht' hat mich nie sonderlich interessiert"

Heutzutage denkt man bei bösen Tieren ja eher an Finanzhaie und Börsenheuschrecken. Was genau symbolisiert der böse Wolf heute, 200 Jahre nach den Brüdern Grimm?

Selge: Der böse Wolf steht für eine existentielle Bedrohung, die jedes Kind fühlt, schon allein wegen seiner geringen Größe und der Unberechenbarkeit von Erwachsenen, die ihre Interessen verbergen, nicht so offen sind, wie es Kinder vielleicht brauchen. Märchen sind dazu da, diese Erfahrungen von Angst aufzugreifen und zu einem guten Ende zu führen. Damit geben sie dem Kind die Möglichkeit, mit Gefährdungen gelassen umzugehen.

Früher war die Moral von "Rotkäppchen": Höre auf deine Eltern und komm nicht vom rechten Weg ab. Und heute?

Selge: Die Moral von der Geschicht’ hat mich nie sonderlich interessiert. Generell werden in Märchen gefahrvolle Situationen mit verschiedenen Figuren durchgespielt. Da gibt es Menschen, die klug, naiv oder gelassen mit der Situation umgehen und sie letztlich zu einem guten Ende führen. Andere sind zu stürmisch oder zu grob, und denen glückt es nicht, sich zu schützen. Das ist das, was ich von Märchen gelernt habe.

Wer hat Ihnen früher vorgelesen, als sie ein Kind waren?

Selge: Meine Eltern und meine Brüder, ich hatte ja ältere Geschwister. Außerdem hatten wir Haushaltshilfen, die auf mich aufpassen mussten, wenn meine Eltern weg waren. Die habe ich erst in Ruhe gelassen, wenn sie mir ordentlich vorgelesen hatten.

Wenn Sie später Ihren eigenen Kindern vorgelesen haben, haben Sie dann die brutalen Stellen weggelassen?

Selge: Nein, ich habe nie irgendwas weggelassen. Zensieren ist nicht mein Ding. Kinder können da viel mehr verkraften als man sich vorstellt. Meine Frau und ich haben unsere beiden Kinder auch früh mit ins Theater genommen: Sie waren ungefähr vier und acht, als sie sich König Lear mit den ganzen blutigen Gemetzeln angeschaut haben, und sie waren so hingerissen, dass sie nicht mal in der Pause rausgehen wollten, damit ihnen nichts entgeht.

"Weihnachten ist das Fest, wo wir uns alle sehen"

Feiert eine Künstlerfamilie wie die Ihre eigentlich auf andere Art Weihnachten, als das sonst üblich ist?

Selge: Ich weiß ja nicht, wie es in anderen Familien läuft. Bei uns ist Weihnachten das Fest, wo wir uns zuverlässig alle miteinander sehen, und die Kinder, die ja schon längere Zeit außer Haus sind, heimkommen. Wir kochen gemeinsam und haben uns viel zu erzählen, wir spielen miteinander, zum Beispiel Doppelkopf, aber wir lesen auch mal Theaterstücke mit verteilten Rollen.

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Vielleicht liest ja Ihr Schwiegervater Martin Walser die Weihnachtsgeschichte?

Selge: (lacht) Ich kann mir nicht vorstellen dass Martin Walser in irgendeiner Familie sitzt und die Weihnachtsgeschichte vorliest, das ist unvorstellbar! Wir feiern auch nicht zusammen, er bleibt am Bodensee und wir in München. Es könnte höchstens sein, dass wir für einen Nachmittag mal zu Besuch hinfahren.

Welche Erinnerungen haben Sie an Weihnachten in Ihrer Kindheit? Ihr Vater war ja Direktor eines Jugendgefängnisses.

Selge: Ich habe, bis ich 17 oder 18 war, jedes Weihnachten in der Justizvollzugsanstalt gefeiert, da gab es einen Gottesdienst mit Krippenspiel, Predigt und Liedern. Und wenn sie jemals 400 Strafgefangene "Stille Nacht, heilige Nacht" haben singen hören, wenn die Eingesperrten mit einer Inbrunst ihren Gefühlen Luft machen – das vergessen Sie Ihr ganzes Leben nicht.