Sesshaft sein ist die Ausnahme

Deutsches Auswanderermuseum Bremerhaven
Die Ladenpassage des Museums. Sie zeigt Erinnerungsobjekte, Dokumente und Fotos der Einwandererfamilien.
Sesshaft sein ist die Ausnahme
Das Auswandererhaus in Bremerhaven zeigt in seiner neuen Ausstellung 15 Lebensgeschichten von Familien, die nach Deutschland einwanderten. Ein Besuch lohnt sich: Schon 2007 wurde es zum besten Museum in Europa gekürt.

Der Protestant Philippé Connor, Franzose, Untertan von Ludwig XIV., war einer von 200.000 Hugenotten, die sich1685 gezwungen sahen, das Frankreich des sogenannten Sonnenkönigs zu verlassen. Protestanten wurden im vorrevolutionären Frankreich verfolgt. Ausdruck der Verfolgung waren die Hugenottenkriege und die Jahrzehnte zuvor. In der Bartholomäusnacht 1572 wurden tausende Calvinisten in Paris ermordet. Ludwig XIV. hob das Edikt von Nantes auf, das die freie Religionsausübung garantierte. Katholisch werden oder verfolgt, hinter Gitter gebracht oder sogar getötet – das war der schreckliche Imperativ, der die Hugenotten aus dem Land vertrieb. Philippé, einer der Refugiés, gelangte nach Berlin. Dort gewährte der protestantische Kurfürst Friedrich Wilhelm den Hugenotten mit dem Edikt von Potsdam besondere Rechte. Noch heute lebt die Familie Connor in Berlin, mittlerweile in der achten Generation.

Die Biographie des Religionsflüchtlings Philippé und seiner Angehörigen ist eine von 15 Lebensgeschichten von Familien, die in den vergangenen drei Jahrhunderten aus europäischen, afrikanischen und asiatischen Ländern nach Deutschland eingewandert sind. Vom 22. April an sind die von Historikern erschlossenen Lebensgeschichten erstmals im Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven öffentlich zugänglich. Seit es 2005 eröffnet wurde, rückt es die Menschen in den Fokus, die nach Übersee, vor allem in die USA emigrierten.

Auf der Suche nach Arbeit

"Wanderung", stellt Simone Eick, die Direktorin des zum Migrationsmuseum avancierten Hauses heraus, "ist der Normalzustand, Sesshaftigkeit die Ausnahme." Deutschland sei immer auch ein Einwanderungsland gewesen, unterstreicht sie – von den Hugenotten in Brandenburg über die polnischen Bergarbeiter im Ruhrgebiet in der Zeit der Industrialisierung bis zur Einwanderung der sogenannten Gastarbeiter aus den Ländern Südeuropas in den 1950er und 1960er Jahren.

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Auf knapp 2000 Quadratmetern in einem Erweiterungsbau, der durch eine Brücke mit dem zentralen Gebäude verbunden ist, werden die Biographien von Einwandererschicksalen in berührenden Ausstellungsstücken erzählt. "Unsere Besucher werden entdecken", sagt Eick voraus, "dass fast jeder einen Einwanderer, Flüchtling oder Vertriebenen unter seinen eigenen Vorfahren finden kann." Diese Erkenntnis enthält nichts weniger als eine hochaktuelle politische Botschaft. Migration ist Gegenwart; sie tangiert uns jederzeit. So wird das Museum zum Menetekel. Weder ist die Tatsache, dass Deutschland de facto Einwanderungsland ist, gesellschaftlich unumstrittenen. Noch werden Migranten als potentielle Erweiterung unserer Kultur begriffen und voraussetzungslos willkommen geheißen.

Migration bedeutete und bedeutet fast immer Auf- und Preisgabe, Risiko, existentielles Wagnis. In Bremerhaven wird dies in bedrückenden Exponaten bewusst, denen sich der Besucher kaum entziehen kann. Im 19. Jahrhundert war häufig hohe Arbeitslosigkeit das Motiv der Suche nach einer neuen Existenz. Einer der Suchenden war Paul Lemke - einer von sieben Millionen, die in den vergangenen beiden Jahrhunderten via Bremerhaven Europa verließen und die Heimat aufgaben. 1874 wanderte der Schneidergeselle  nach Amerika aus, um der Ausweglosigkeit in der brandenburgischen Heimat zu entkommen.

Leben unter Einwanderern: ein Privileg

In originalgetreuen Szenarien, die an Filmkulissen erinnern, erleben die Besucher wichtige Etappen der Auswanderer. Von der Einschiffung über die steile Gangway bis zur Registrierung durch die Einwanderungsbehörde in Ellis Island. Nachbauten von Unterkünften unter Deck, historische Illustrationen und Multimediadisplays veranschaulichen das entbehrungsreiche Leben an Bord, vor allem in der dritten Klasse: die bedrohliche Enge in den primitiven Massenkojen und die unzureichende Verpflegung speziell in der Ära der Segelschiffe, als eine Überfahrt bis zu drei Monaten dauerte. Die unzureichende medizinische Betreuung und die Profitsucht der Reeder forderten ihren Tribut. Bis zu drei Prozent der Auswanderer überlebten die Fahrt auf den "segelnden Särgen" nicht, wie damals englische und irische Segelschiffe genannt wurden. Erst mit der Dampfschifffahrt ab 1870 wurde die Begleitung eines Arztes verpflichtend.

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Die Konfrontation mit der Realität des Auswanderns wird für die meisten Besucher zu einer emotionalen Zeitreise. "Wir arbeiten stark mit Inszenierungen, um zu zeigen, was es bedeutet, seine Heimat für immer zu verlassen", sagt Eick. "Man kann Emotionen nicht ausstellen, nur auslösen." Manche haben Tränen in den Augen, etwa dann, wenn sie sich auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte bewegen. Für viele Auswanderer bewahrheitete sich zum Glück die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Lemke ging weiter nach Hawaii und schaffte es zum Hofschneider von König Kalakaua. Noch heute leben seine Nachfahren dort, in fünfter Generation. Der Schwabe Carl Laemmle, der 1884 via Bremerhaven in die Neue Welt emigrierte, ließ 30 Jahre später in Kalifornien "Universal City" errichten-  die Geburtsstunde von Hollywood.

2007 ist das Auswandererhaus vom Europäischen Museumsforum als bestes Museum Europas ausgezeichnet worden. Mit der Profilerweiterung zu einem Gedächtnis der Migration hat es sich ein Alleinstellungsmerkmal auf dem Kontinent erarbeitet. Direktorin Eick zitiert John F. Kennedy: 1963 sagte der US-Präsident, das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft sei "keine Bürde, sondern ein Privileg". Ein halbes Jahrhundert später ist es an uns, diese Verheißung einzulösen.