Luther ist nur als "Kind seiner Zeit" zu verstehen

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Martin Luther
Luther ist nur als "Kind seiner Zeit" zu verstehen
Der Berliner Historiker Heinz Schilling warnt davor, den Reformator Martin Luther (1483-1546) am Toleranzbegriff des 21. Jahrhunderts zu messen. "Der Toleranzbegriff nach der Aufklärung ist ein anderer als zur Zeit Luthers", sagte der emeritierte Professor für Europäische Geschichte der frühen Neuzeit.

Schilling verfasste das aktuelle Buch "Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs". Er würdigt den Reformator als Theologen, der die Religion wieder als existenzielle Kraft für den Einzelnen und für die Gesellschaft in die Welt brachte. Schilling plädiert mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017, an dessen Vorbereitungen er in einem wissenschaftlichen Beirat mitarbeitet, dafür, "die Sperrigkeit Luthers" stärker herauszuarbeiten.

Was unterscheidet Luther von seinen Zeitgenossen?

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Heinz Schilling: Zunächst einmal relativ wenig, Luther ist ein Kind seiner Zeit. Er ist genauso abergläubisch und war am Anfang in derselben Weise religiös wie seine Zeitgenossen. Was ihn zwar nicht absolut unterscheidet, aber doch in der Intensität, ist seine Bibelzentriertheit. Vor allem aber nahm er im Unterschied zu den meisten seiner Zeitgenossen die Religion existenziell als Frage nach dem universellen Sinn seiner Existenz. Er nahm die Leistungsfrömmigkeit existenziell und stellte im Kloster fest, ich kann dem nicht genügen. Dieser existenzielle Zweifel, der ihn fast in den Wahnsinn und in die Verzweiflung trieb, ist sicher typisch für Luther.

Wie hat dieser zweifelnde Luther die Welt verändert?

Schilling: Er hat die Welt verändert in der Hinwendung zur Religiosität als existenzielle Kraft. In der oberflächlichen Leistungsfrömmigkeit des Mittelalters war die Religion zur Arabeske geworden. Luther brachte die Religion wieder als existenzielle Kraft für den Einzelnen aber auch für die Gesellschaft in die Welt. Mit positiven und negativen Folgen, aber in einer Dynamik, die das Zeitalter und die Welt veränderte.

"Luther wollte keine Multikonfessionalität"

Worin liegen seine Verdienste?

Schilling: Er war bereit, dicke Bretter zu bohren. So impulsiv und leidenschaftlich er war, hat er seine Erkenntnis in einer beeindruckenden Weise beharrlich umgesetzt. Er hat sich nicht dazu verführen lassen, mit Gewalt vorzugehen und sich durch Ritter oder aufständische Bauern vertreten zu lassen. Er hat seine Position kontinuierlich verfolgt. Angesichts der immer wieder an ihn herangetragenen Versuchung, kurzen Prozess zu machen, war das eine ungeheure Leistung. Er hat seine Erkenntnis nach seinen Prinzipien und nach seinem Gewissen durchgesetzt und durchgehalten.

Welche Folgen hatte das für die Weltgeschichte?

Schilling: Seit Luther ist die Christenheit nicht mehr monolithisch. Es gibt in der Christenheit fortan mehrere Positionen. Damit ist innerhalb der alten europäischen Welt eine Differenzierung eingetreten, die vorher in dieser Weise nicht möglich war.

War das alles so gewollt?

Schilling: Durch die Tatsache, dass sich eine Alternative zur römischen Einheitskirche in wesentlichen Teilen Europas behauptet hat, ergaben sich wichtige Impulse in Richtung auf Multikonfessionalität, Toleranz und Pluralität. Das hat Luther beileibe nicht gewollt, aber das war ein Ergebnis seines historischen Auftritts.

"Sperrigkeit Luthers herausarbeiten"

Lässt sich Luther an unserem heutigen Toleranzverständnis messen?

Schilling: Das führt in die Irre. Luther kann nicht am Toleranzbegriff des 21. Jahrhunderts gemessen werden. Der Toleranzbegriff nach der Aufklärung ist ein anderer als zur Zeit Luthers. Die Religion war damals die Zentralachse des öffentlichen wie des privaten Lebens. Da war Toleranz im heutigen Sinne nicht möglich. Es ist daher völlig unhistorisch - wie es in einer Broschüre der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geschieht - die Untoleranz Luthers herauszustellen oder sich gar für diese historische Position Luthers zu entschuldigen. Es geht vielmehr darum herauszuarbeiten, warum Luther hier eine andere Einstellung hatte als wir heute und wie er dennoch mit dazu beigetragen hat, dass sich der moderne Toleranzbegriff entfalten konnte.

Was bedeutet das etwa im Blick auf Luthers scharfe Worte gegen die Juden?

Schilling: In seinen Spätjahren war Luther geradezu getrieben von der Sorge, dass seine Erkenntnis wieder verloren gehen könnte. Er hat die Obrigkeit aufgefordert, gegen alle, die von seiner Gnadenlehre und von seiner Wende hin zum Evangelium abweichen, vorzugehen. Das ist nichts Besonderes in dieser Zeit. Das kann man ihm auch nicht vorwerfen, sondern das muss man genauso beschreiben. Insbesondere seine starken Ausfälle gegen die Juden. Seine Haltung historisch zu erklären, heißt natürlich nicht, sie in irgendeiner Weise akzeptabel zu machen. Gerade an diesem Punkt ist auf die grundlegende Andersartigkeit seiner und unserer heutigen Welt zu beharren.

Was erwarten Sie denn von dem Reformationsjubiläum 2017?

Schilling: Es wäre notwendig, zunächst einmal eine radikale Wendung hin zum historischen Luther zu vollziehen und seine Leistungen in der uns fremden Welt des 16. Jahrhunderts herauszustellen. Dann sollte man fragen, was bedeutet das für uns heute? Ich würde mir wünschen, dass man stärker die Sperrigkeit Luthers herausarbeitet, um der Gegenwart einen Spiegel vorzuhalten. Einen Spiegel, der zeigt, dass nicht alles immer so war, wie es heute ist und dementsprechend - das ist die noch wichtigere andere Seite der Medaille - auch das heute Geltende veränderbar, also relativ ist. Mit Luther kam eine Sperrigkeit der Interpretation des Glaubens und der Gesellschaft, Politik und der Kultur in die Welt, die die Christen frei von Zwängen des Augenblicks machen sollte.

"Wissenschaftlicher Beirat hat zu wenig Kompetenz"

Wie beurteilen Sie die bisherigen Vorbereitungen des Jubiläums?

Schilling: Ich sehe augenblicklich noch kein Profil für das Ganze. Es ist eher additiv - jetzt machen wir die Musik, dann machen wir die Toleranz, dann reden wir von der Freiheit - ohne dass man sich bisher wirklich mit der historischen Freiheit bei Luther auseinandergesetzt hat, um darin unseren heutigen Freiheitsbegriff spiegelnd zu präzisieren, eventuell auch zu modifizieren. Ich bin mir nicht sicher, ob die augenblickliche Organisation der Vorbereitung des Jahres 2017 das leisten kann. Der wissenschaftliche Beirat hat meines Erachtens zu wenig Kompetenz, um auch gegen manche historisch unhaltbaren Vorstellungen der Kirchenmänner, etwa in der erwähnten Toleranzbroschüre, korrigierend gehört zu werden.

###mehr-artikel###Wie sollte das Jubiläum denn konkret begangen werden?
 
Schilling: Nichts ist so einflussreich wie eine Ausstellung. Da muss man jetzt die Weichen stellen. Ich habe mich dafür ausgesprochen, eine große Ausstellung am Deutschen Historischen Museum in Berlin zu machen, wo Luther in seinen weltgeschichtlichen und europäischen Perspektiven dargestellt werden könnte. In solch einer Ausstellung kann man diese Dinge wissenschaftlich neutral darstellen und könnte sicherlich auch einen großen Publikumserfolg erzielen. Das müsste längst in die Wege geleitet werden, was aber nicht geschehen ist. Es müsste längst so etwas wie eine Taskforce von wissenschaftlich ausgewiesenen Kennern Luthers und der Reformationsepoche am Werk sein. In der sehr amorphen Struktur, die gegenwärtig von der EKD aufgebaut worden ist, funktioniert das nicht.

Neben Berlin sind aber auch Ausstellungen in Wittenberg und auf der Wartburg geplant.

Schilling: Das ideale Modell ist eine einheitlich konzipierte und geleitete Doppelausstellung Wittenberg-Berlin entsprechend dem in jeder Hinsicht erfolgreichen Modell der Ausstellung 2006 in Magdeburg und Berlin zur Erinnerung an das Ende des Alten Reiches 1806. Daneben und gegebenenfalls inhaltlich verzahnt mit einer solchen regional und sachlich übergreifenden "Schau" sind weitere Ausstellungen denkbar und wünschenswert. So auch und gerade auf der Wartburg. Dabei wäre aber konkret zu beachten, dass an diesem Ort leicht der deutsch-nationale Luther in Erscheinung träte. Zudem sind dort die Ausstellungsbedingungen kaum ideal.