Das Gottesreich immer im Blick

Martin Rothe
Das Gottesreich immer im Blick
Orthodoxe sind in Polen eine Minderheit, die dieser Tage wieder einen Aufschwung erlebt
Unser östliches Nachbarland, einer der beiden Ausrichter der EM; gilt als tief katholisch – und ist es auch, trotz vorhandener Säkularisierungstendenzen. Doch neben den 96 Prozent Katholiken gibt es in Polen auch andere christliche Konfessionen mit einer spannenden Geschichte. Zweitgrößte Kirche des Landes ist mit etwa 600.000 Mitgliedern die Polnisch-Orthodoxe Kirche. Im 20. Jahrhundert besonderen Verfolgungen ausgesetzt, erlebt sie seit 1989 eine neue Blüte. Eine Reportage aus ihrem Kerngebiet an der Grenze zu Weißrussland.

Es ist eine erstaunlich große Schar von Gläubigen, die sich um die orthodoxe Kirche "Johannes der Theologe" im Neubaugebiet von Białystok drängt – und das an einem gewöhnlichen Donnerstagmittag. Bei näherem Hinsehen ist eine feierliche Prozession zu erkennen: Bärtige, schwarz gewandete Geistliche tragen die Ikone des Namenspatrons voran, die Gemeinde folgt. Nachdem das Gotteshaus umschritten ist, geht es wieder zurück ins Innere.

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Kerzenlicht und Weihrauch erfüllt den Raum. Von der Empore singt ein vielstimmiger Chor kirchenslawische Gesänge. Vor dem Altar erhebt sich – wie in jeder orthodoxen Kirche – eine reich geschmückte Bilderwand, die Ikonostase. Sie verbirgt das Allerheiligste vor den Blicken der Laien. Die Königstür in ihrer Mitte steht nur Geistlichen offen. In einem Halbkreis vor der Ikonostase stehen zehn Priester in prächtigen weiß-goldenen Gewändern.

Im Schatten des Wirtschaftswunders

Einer von ihnen, ein gut vierzigjähriger Mann mit schwarzem Vollbart und Brille, ragt heraus durch seine kronenartige Mitra: Es ist der Erzbischof von Białystok. Er hält eine freie Predigt über Johannes und sein Evangelium. Kurz danach ist die dreistündige "Göttliche Liturgie" abrupt zu Ende.

Viele ältere Leute und junge Frauen drängen sich nach vorn, um das Liturgiekreuz zu küssen – oder die Hand des Erzbischofs, der sich den Weg nach draußen bahnt. Er verteilt kleine Ikonenbildchen unter die Menge. Die Gläubigen danken mit Demutsgesten.

Eine moderne orthodoxe Kirche in Hajnowka (nahe weißrussische Grenze). Foto: Martin Rothe

Erzbischof Jakubs Diözese ist das Kernland der halben Million Orthodoxen in Polen. Ein Viertel bis ein Drittel der 300.000 Einwohner von Białystok, Hauptstadt der Wojewodschaft Podlachien an der Grenze zu Weißrussland, sind orthodox. In den umliegenden Dörfern erreicht die Zahl der Orthodoxen teilweise 90 Prozent. Allerdings stehen ihre Dorfkirchen zunehmend leer. Grund ist die um sich greifende Landflucht: Im Osten Polens, jenseits boomender Großstädte wie Warschau, Krakau oder Danzig, gibt es oft nur schlecht bezahlte Jobs. Viele Einwohner Podlachiens verdienen umgerechnet 300 Euro im Monat und müssen damit ihre Familien durchbringen. Landwirte, die nicht rechtzeitig neue Maschinen angeschafft haben, verarmen.

Ein neues Gotteshaus für Białystok

Viele junge Leute ziehen weg in Städte wie Warschau oder Breslau. Oder gleich nach Westeuropa. "Es gibt eine direkte Buslinie von hier nach Brüssel", sagt Grzegorz Misijuk, früher Priester in der Kleinstadt Drohiczyn. "Die Hälfte meiner ehemaligen Gemeinde arbeitet mittlerweile im Ausland. Das ist ein großes Problem, denn dadurch werden die Familienstrukturen zerschlagen."

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Wer aus den armen podlachischen Dörfern nicht gen Westen auswandert, zieht zumindest in eines der vielen Neubaugebiete von Białystok – zum Beispiel in den jetzigen Kirchenbezirk von Vater Grzegorz. Seine Gemeinde ist in letzter Zeit von 400 auf 900 Familien angewachsen. "Unsere Georgioskirche ist jeden Sonntag voll", sagt er.

Offenbar hat er eine gute Kinderarbeit gemacht, denn ihm zufolge waren es die Kinder, die ihre Eltern nach und nach mit in die Kirche gebracht haben. Der Zuwachs war so stark, dass jetzt ein neues Gotteshaus gebaut wird. Gern zeigt Vater Grzegorz Gästen die schon weitgehend fertiggestellte Unterkirche. Sie wird gerade prächtig ausgeschmückt – innen traditionell, außen modern. 

Heilungen und Holzkreuze auf dem Berg Grabarka

Auch andernorts im Osten Polens lässt sich ein starkes Interesse der orthodoxen Bevölkerung an ihrer religiösen Tradition feststellen. Jedes Jahr im August pilgern zehntausende Gläubige zum heiligen Berg Grabarka, nur wenige Kilometer entfernt vom Bug, dem Grenzfluss zu Weißrussland. Das Quellwasser des Berges soll wundersame Heilungen vollbringen.

Als im Jahre 1710 eine Cholera-Epidemie um sich griff, wurde – so geht die Legende – einem Mann offenbart, er solle ein Holzkreuz auf den Berg tragen und Wasser aus der Quelle trinken, um gerettet zu werden. Mehrere tausend Menschen folgten seinem Rat und wurden wunderbarerweise vor der Cholera bewahrt. Noch heute pilgern Menschen am Tag der Verklärung Jesu mit Holzkreuzen hierher, um für Heilungen zu beten oder zu danken.

Holzkreuze rund um die Wallfahrtskapelle auf dem für Orthodoxe Heiligen Berg Grabarka (Ostpolen, nahe weißrussische Grenze). Foto: Martin Rothe

Besucher des heiligen Berges erwartet oben neben Kreuzeswald und Kirche auch ein Nonnenkloster. Beim Mittagessen im ikonengeschmückten Refektorium berichtet Äbtissin Hermiona von einem aufblühenden Klosterleben. Die polnische Orthodoxie zähle inzwischen fünf Frauen- und sechs Männerklöster mit insgesamt etwa 100 Frauen und Männern. Die Frauen seien in der Mehrzahl und viele von ihnen erst um die 30 Jahre alt. Nach Gründen für diesen Zuwachs gefragt, verweist die ebenfalls junge Äbtissin auf eine gute Jugendarbeit und auf die Nachfrage nach Gegenwerten zur Moderne.

Nicht immer ging es der orthodoxen Kirche Polens so gut wie heute. Pilgerfahrten nach Grabarka waren in den Zeiten des real existierenden Sozialismus nicht gestattet. Doch diese Diktatur war nicht der einzige Gegner der polnischen Orthodoxen im 20. Jahrhundert.

Verfolgt von Nazis und Nationalkatholiken

Besonders zu leiden hatten sie unter Aktionen der Nationalkatholiken. So ließ die polnische Regierung 1938 zweihundert orthodoxe Kirchen im ganzen Land sprengen. Kurz danach begann die Zeit des deutschen Terrors, auf die 1945 die Westverschiebung Polens folgte. Im Zuge der damit einhergehenden Zwangsumsiedlungen ("Aktion Weichsel") kam es zu Gewaltexzessen, besonders gegenüber orthodoxen Familien.

Noch heute gibt es von polnisch-katholischer Seite Vorurteile gegenüber den orthodoxen Landsleuten. "Viele Katholiken wissen kaum etwas über uns. Wir gelten ihnen einfach als Russen, und das heißt für sie: Kommunisten", sagt Włodzimierz Misijuk, Sohn von Vater Grzegorz und ebenfalls Priester.

Dennoch: Der Polnisch-Orthodoxen Kirche geht es seit 1989 deutlich besser. Sie profitiert vom neuen Staatskirchenrecht, das die katholische Kirche mit der polnischen Regierung aushandelte. So dürfen auch die Orthodoxen an staatlichen Schulen Religionsunterricht erteilen, Militärgeistliche entsenden und soziale Einrichtungen unterhalten. Auch jenseits von  Białystok werden neue orthodoxe Kirchen gebaut.

Die neuen Ikonenmaler öffnen "Fenster zur Ewigkeit"

Für den neuen Schwung und Unternehmungsgeist der polnischen Orthodoxie seit 1989 ist der eloquente Włodzimierz Misijuk (47) selbst ein gutes Beispiel. Als Jugendlicher war er einer der Mitbegründer eines polnisch-deutschen Jugendaustausches. Später vertrat er seine Kirche auf ökumenischen Treffen im In- und Ausland. Vor wenigen Jahren ernannte ihn der in Warschau residierende Metropolit zum Kanzler der neu gegründeten "Akademia supraska". Das Bildungszentrum hat seinen Sitz im Kloster von Supraśl, dem früheren geistigen Zentrum der polnischen Orthodoxie. Die Kirche hat das Kloster vom Staat zurückerhalten und umfangreiche Renovierungen eingeleitet.

Bei diesen Arbeiten kommt möglicherweise ein Berufsstand zum Einsatz, den es in Polen noch keine zwanzig Jahre gibt: die Ikonenmaler – oder besser: "Ikonenschreiber", denn Ikonen werden "geschrieben". Seit 1991 gibt es in Bielsk Podlaski Polens einzige Schule für Ikonographie. 17 Schüler sind es derzeit, die hier eine vierjährige Ausbildung absolvieren. Die Technik ist die gleiche wie im Mittelalter: Die Ikonenschreiber benutzen ausschließlich natürliche Materialien und rühren ihre Farben mit Eiern an.

Ob Material, Farbe oder Gestalt: Nichts ist zufällig, alles hat seine Bedeutung. "Die Ikonenschreiber bilden nicht ihre Einfälle ab, sondern arbeiten nach Vorlagenbüchern der heiligen Väter", sagt Mitarbeiter Eugeniusz Korowaj (37). Diese Vorlagen aus dem 9. Jahrhundert schreiben vor, die Heiligen nicht naturalistisch zeigen. "Eine Ikone ist schließlich kein einfaches Bild, sondern ein Bild der Seele, ein Fenster zur Ewigkeit", erklärt Korowaj. "Die Ikone zeigt die geistliche Welt. Wenn ich vor der Ikone bete, fühle ich: Gott ist bei mir gegenwärtig und hilft mir." Jedes Gebet vor einer Ikone, jede Teilnahme an der Göttlichen Liturgie ist für orthodoxe Gläubige ein Blick in die andere Welt, ein Vorgeschmack des Gottesreiches.