Gott als Arzt, Gebet als Medizin

epd/Gerhard Bäuerle
Mitarbeiter des "Healing Room Kraichgau" im baden-württembergischen Sinsheim beten unter Handauflegung für eine Mutter und ihr Kind.
Gott als Arzt, Gebet als Medizin
In sogenannten "Healing Rooms", "Heilungsräumen", beten charismatische Christen zu festen Öffnungszeiten für seelische und körperliche Gesundheit. Von Gottes Geist erhoffen sie Wunder. Doch eine automatische Heilung durch Glauben gibt es nicht.
21.05.2012
epd
Judith Kubitscheck

Kerstin G. freute sich über das neue Leben, das in ihrem Bauch heranwuchs - bis sie eine niederschmetternde Diagnose erhielt: Ihr Kind habe den Gendefekt Trisomie 22. "Der Arzt riet mir zur Abtreibung", erinnert sich die 40-Jährige. "Für ihn war sicher, dass dieses Kind nicht überleben wird." Eine Freundin erzählte ihr von einem "Healing Room", in dem Christen für die Gesundheit von Menschen beten und erwarten, dass Gott Wunder tut. Kurz entschlossen fuhr sie zum "Healing Room Kraichgau" ins baden-württembergische Sinsheim.

Jeden Dienstagabend verwandeln sich dort für drei Stunden die Räume der Christlichen Gemeinschaft Steinsfurt, einer Freikirche, in eine geistliche "Heilungspraxis". Die meisten ehrenamtlichen Mitarbeiter haben keine spezielle Ausbildung, sondern nur einige Kurzseminare über Heilung besucht. "Wir haben keine übernatürlichen Kräfte, aber Gott kann Wunder tun", ist Mitarbeiter Emil Kreß überzeugt. Wenn sie beten, wirke Gott durch seinen Heiligen Geist an den Menschen und könne diese heilen.

Gott als "Wunscherfüllungsmaschine"

Begründer der Healing Rooms ist der Pfingstkirchler John Lake, der 1915 in Spokane im US-Staat Washington den ersten Heilungsraum gründete. 1999 belebten die Amerikaner Cal und Michelle Pierce die Idee, 2003 wurde der erste deutsche Healing Room im hessischen Neu-Anspach gegründet. Heute gibt es deutschlandweit 24, vor allem in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen.

Laut Kai Funkschmidt von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin ist die Stärke der charismatisch geprägten Healing Rooms, dass sie sich intensiv der Not des Einzelnen zuwenden. Die Mitarbeiter seien bereit, beliebig oft um Heilung zu beten, nicht nur um Kraft für das Ertragen der Krankheit.

Er kritisiert aber, dass einige Mitarbeiter von Healing Rooms glaubten, die Ursache für Krankheiten liege letztlich in einer Schuld des Patienten oder in seinem fehlenden Glauben. Eine solche Auffassung sei jedoch unbiblisch. In manchen Healing Rooms werde die Erwartung geweckt, dass Gott "fast wie eine Wunscherfüllungsmaschine" die Heilung bewirke, bemängelt Funkschmidt. Heilung werde dadurch nahezu vorhersehbar und abrufbar, die Souveränität Gottes, der auch anders reagieren könne als erhofft, sei nicht im Blick.

Erzählen von Ängsten und Zweifeln

Die Betreiber der Heilungsräume stehen den pfingstkirchlich und charismatisch geprägten Christen nahe, die die Bibel wörtlich auslegen und vor allem an das Wirken des Heiligen Geistes glauben. Neben Singen, Beten und Bibelauslegung haben Geistesgaben - das griechische Wort "charisma" steht für "Geschenk" - Raum in der Gemeinde: Zungenreden, Prophetie und Krankenheilung.

Dabei berufen sie sich auf die neutestamentliche Pfingstgeschichte, die davon berichtet, wie die urchristliche Gemeinde nach der Ausgießung des Heiligen Geistes ekstatische Wundererfahrungen machte. In Deutschland werden etwa 300.000 Anhänger gezählt, die sich auf Pfingstkirchen, charismatische Erneuerungsbewegungen in evangelischer und katholischer Amtskirche sowie freie Gemeinden verteilen. Prägend ist der Glaube an Gottes unmittelbares Wirken in der Gegenwart - der sich auch in Heilung ausdrückt.

Kerstin G. wird im Sinsheimer Heilungsraum in einen Raum mit zwei Mitarbeitern gebeten. "Unter Tränen erzählte ich ihnen von meinen Ängsten und Zweifeln". Eineinhalb Stunden lang hören die Mitarbeiter  zu und beten unter Handauflegung für die Schwangere. "Auf der Fahrt nach Hause war ich ganz ruhig", sagt Kerstin G..

Spontanheilungen sind die Ausnahme

Die Leiterin des Kraichgauer Healing Rooms, Angelika Matscheko, hat vor ihrer Elternzeit als Ärztin gearbeitet. Für sie ist es kein Widerspruch, Hilfe bei Schulmedizinern zu suchen und gleichzeitig von Gott Wunder zu erwarten. "Die Medizin kann heute viel leisten und viele Menschen, die zu uns kommen, sind gleichzeitig in medizinischer Behandlung." Oft kämen die Patienten dort aber nicht weiter und suchten Hilfe bei Gott. "Wir legen großen Wert darauf, dass die Patienten keinesfalls ihre Medikamente einfach nach dem Gebet absetzen. Ein Besuch bei uns ersetzt keine medizinische Behandlung".

Die Homepage weckt große Erwartungen: "Spontanheilungen - man könnte sie auch Wunder nennen - bleiben nicht aus".  Es gebe in der Geschichte der Heilungsräume "Tausende von dokumentierten Heilungen". Im Healing Room Kraichgau sind dagegen Spontanheilungen die Ausnahme, gibt Kreß zu.

Wenige würden sofort geheilt, bei den meisten sei es ein Prozess. Doch kaum ein Patient verlasse die Räume völlig unverändert. Weil im Heilungsraum auch für die Sorgen und seelische Belastung der Menschen gebetet werden, fühlten sich die meisten danach freier und erleichtert, sagt Kreß. Und was, wenn sich gar nichts tut? War dann der Glaube zu klein? "Nein", sind sich die Mitarbeiter aus Sinsheim einig. "Eine Heilung hängt nicht davon ab, wie stark man glaubt", sagt Matscheko. 

Kerstin G. entband ihr Kind im siebten Monat mit 660 Gramm Geburtsgewicht. Die Ärzte fanden in 84 Prozent der Plazenta-Zellen Trisomie 22, doch ihr kleines Mädchen war gesund. Miriam - die Widerspenstige - tauften die Eltern ihr Kind. "Für meinen Mann ist Miriam ein Wunder der Natur. Für mich ist sie eine Gebetserhörung", sagt die 40-Jährige.