Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch - Betroffene beteiligen

Nina Elting von der Geschäftsführung der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission (URAK) West
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Nina Elting von der Geschäftsführung der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission (URAK) West
Unabhängige Kommissionen URAK
Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch - Betroffene beteiligen
Das Thema sexualisierte Gewalt wird nicht nur in der Gesellschaft diskutiert. Die EKD-Landeskirchen und Landesverbände der Diakonie haben sich zu neun Verbünden zusammengeschlossen, die jeweils eine Unabhängige Regionale Aufarbeitungskommission bilden. evangelisch.de-Redakteurin Alexandra Barone hat Nina Elting von der Geschäftsführung der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission (URAK) West zu dem Thema befragt, von dem die pfälzische Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Dresden sagte: Es ist kein Thema, mit dem die Kirche irgendwann fertig sein wird.

evangelisch.de: Was genau macht die Unabhängige Regionale Aufarbeitungskommission (URAK)?

Nina Elting: Das zentrale Bestreben aller URAKs ist die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. In Deutschland gibt es neun solcher regionalen Aufarbeitungskommissionen. Die URAK West ist zuständig für den Verbund West, den die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen, die Lippische Landeskirche und das Diakonische Werk Rheinland-Westfalen-Lippe bilden. Er hat die höchste evangelische Gemeindegliederzahl aller Verbünde und ist der größte mit den meisten bekannten Betroffenen sexualisierter Gewalt.

Die Aufgaben der regionalen Aufarbeitungskommissionen sind in der gemeinsamen Erklärung der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (kurz: UBSKM), der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Diakonie Deutschland festgeschrieben. 

Im Einzelnen sind das die zahlenmäßige Erhebung von Fällen sexualisierter Gewalt, um deren Ausmaß in den beteiligten Landeskirchen und den Gliederungen der diakonischen Landesverbände zu erkennen. Außerdem das Erkennen und Benennen von Strukturen, die sexualisierte Gewalt ermöglichen, begünstigen, deren Aufdeckung erschweren oder dies in der Vergangenheit getan haben. Auch der Umgang mit Betroffenen wird genau beleuchtet. Zudem sollen die URAKs betroffenen Personen eine individuelle Aufarbeitung ermöglichen.

Die regionalen Aufarbeitungskommissionen unterstützen und beraten dabei die beteiligten Landeskirchen und diakonischen Landesverbände mit Blick auf die institutionelle Aufarbeitungspraxis und die unabhängige Aufarbeitung konkreter Fälle. Sie machen Vorschläge für weitere Studien und geben Anregungen für Vorschriften zur Aufarbeitung.

Die URAK soll eine niedrigschwellige Erreichbarkeit für Betroffene sicherstellen. Was sind Ihre Erfahrungen mit den Betroffenen? Gibt es viel Zulauf? 

Elting: In jeder Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission arbeiten betroffene Personen mit, die durch ein Gremium, die sogenannte Betroffenenvertretung, unterstützt werden. Jede Unabhängige Regionale Aufarbeitungskommission ist täglich über ihre Geschäftsstelle erreichbar: telefonisch, per Post oder E-Mail. Um möglichst vielen Personen den Zugang zu ermöglichen, laden die Landeskirchen und die beteiligten Diakonischen Werke in den neun Verbünden jährlich zu Foren für Betroffene ein, bei denen sich jede:r aktiv beteiligen kann.

In diesem Jahr nahmen am Forum des Verbundes West 67 betroffene Personen teil. Der Verbund West hat sich entschieden, die URAK-West als Gast einzuladen, sodass Fragen zur Arbeit der Kommission direkt beantwortet und Anliegen an die Aufarbeitung aufgenommen werden konnten. 

Die Frage nach meinen Erfahrungen mit "den Betroffenen" finde ich unpassend. Die Formulierung "die Betroffenen" zieht eine unsichtbare Grenze zwischen Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben mussten und denen, die es nicht mussten. Auch wird durch die Formulierung ein Machtgefälle suggeriert, dass es so nicht geben sollte. Ich habe keine Erfahrungen mit einer bestimmten Personengruppe zu "machen".

"Wir sollten das Engagement der Menschen für ein machtsensibles Miteinander zu schätzen wissen"

Aktuell sehe ich meine Aufgabe darin, Wünsche und auch Kritik zur Arbeit der URAK-West entgegenzunehmen. Dies geschieht sowohl über Rückmeldungen aus der Betroffenenvertretung als auch durch Teilnehmende des Betroffenenforums und Anfragen per E-Mail oder Telefon. Wir sollten das Engagement der Menschen für ein machtsensibles Miteinander zu schätzen wissen. 

Was sind die bisherigen Ergebnisse?

Elting: Als Geschäftsführung der URAK-West möchte ich dem jährlichen Bericht der Kommission nicht vorgreifen. Bisher haben neun Sitzungen der Betroffenenvertretung der URAK-West und sieben Sitzungen der URAK-West stattgefunden. Zudem gab es drei gemeinsame Sitzungen, die auch dazu dienten, Wünsche und Impulse der Betroffenenvertretung aufzunehmen.

Daneben hat die URAK-West die beteiligten Landeskirchen und die Diakonie Rheinland Westfalen Lippe um Auskunft über die Anzahl der jeweils bekannten Fälle sexualisierter Gewalt seit den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts gebeten. Die Antworten liegen vor, die Auswertung ist noch nicht abgeschlossen. Die URAK-West beabsichtigt, erste Ergebnisse im März des kommenden Jahres vorzulegen.

Was sind bzw. waren die größten Hürden?

Elting: Zu Beginn galt es viele organisatorische Aufgaben zu bewältigen, damit die regionalen Aufarbeitungskommissionen schnell starten konnten. Die URAKs sind ja ein komplett neues Konstrukt. Vom rechtlichen Rahmen bis hin zum Internetauftritt musste alles aufgebaut werden. Das ist der URAK-West sehr gut gelungen. Die Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und dem Saarland haben ihre Kommissionsmitglieder schnell benannt, und auch die Landeskirchen und die Diakonie RWL konnten schnell zwei Mitglieder gewinnen.

"Menschen, die sexualisierte Gewalt im kirchlichen Kontext erfahren haben, sollten an der Gestaltung der Verfahren beteiligt werden"

Im Sommer vergangenen Jahres beteiligten sich außerdem 65 betroffene Personen an zwei Workshops und einem Forum, um anschließend ebenfalls zwei Vertreter:innen der Betroffenenvertretung für die URAK-West zu benennen, sodass das Gremium gut starten konnte. 

Die Verfahren zur Anerkennung von Leid innerhalb der Evangelischen Kirche und Diakonie müssen konsequent betroffenenorientiert ausgestaltet werden. Das bedeutet: Menschen, die sexualisierte Gewalt im kirchlichen Kontext erfahren haben, sind nicht nur anzuhören, sondern angemessen an der Gestaltung der Verfahren zu beteiligen.

Aus meiner fachlichen Perspektive, die auf 15 Jahren intensiver Ausbildung und praktischer Arbeit mit von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen beruht, ist die Sicherung und Förderung eines offenen Austauschs aller Prozessbeteiligten eine zentrale Voraussetzung für einen verantwortungsvollen Umgang mit diesen Verfahren. Gerade bei einem so sensiblen Thema müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen sich alle Beteiligten sicher und verstanden fühlen und sich somit gut in die Prozesse einbringen können.

Wie wichtig ist die Aufarbeitung im Hinblick von Vertrauen in die Kirche und sinkender Mitgliederzahlen?

Elting: Ich halte die Aufarbeitung für enorm wichtig für die Zukunft der Kirchen, da sie den Werten der Kirche entspricht. So wie ich Kirche verstehe, möchte sie einen Raum für Gemeinschaft und Schutz bieten. Die Werte der Kirche - Liebe, Gerechtigkeit, Wahrheit - sind aus meiner Sicht tragende Wände für diesen Raum.  Machtmissbrauch bringt diese Wände zum Einstürzen und senkt somit berechtigterweise das Vertrauen in die Institution.

Was erwarten Sie von der Zukunft? Was müsste sich ändern?

Elting: Die ersten Schritte sind gemacht, doch es ist noch ein langer Weg, gute Konzepte zu etablieren und weiterzuentwickeln, um Kindern und Erwachsenen einen guten, sicheren Raum zu gewährleisten. Aus meiner Sicht muss ein Umdenken erfolgen. Kirche soll für Toleranz und Nächstenliebe, aber auch für Schutz und einen vertrauensvollen und sicheren Umgebung stehen. Hierzu ist es erforderlich, dass Menschen, die sich nicht nach diesen Werten verhalten auch deutliche Konsequenzen erfahren. Dies kann nur mit der Partizipation von betroffenen Menschen und einem guten Miteinander und Füreinander gelingen. 

Hinweis: Die Antworten und Inhalte geben die persönliche Meinung der Geschäftsführung der URAK-West wieder und entsprechen nicht zwingend den offiziellen Positionen der URAK-West.