EKD-Kulturbeauftragter Claussen: Vom Zeitgefühl der Bibel lernen

EKD-Kulturbeauftragter Claussen: Vom Zeitgefühl der Bibel lernen
17.10.2025
epd
epd-Gespräch: Karen Miether

Hannover (epd). Vom biblischen Zeitempfinden können Menschen aus Sicht des Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, auch heute noch lernen. „Langeweile in unserem heutigen Sinne kannten die Menschen der Bibel nicht, weil sie auch die Ablenkung und die Schnelligkeit und Dynamik unseres Lebens nicht kannten“, sagte der Theologe dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Gedanke, dass die Zeit und mit ihr die Entwicklung der Menschheit immer weiter fortschritten, sei damals noch nicht im Bewusstsein verankert gewesen, sagte er mit Blick auf die Zeitumstellung am 26. Oktober. Sie hätten eher in Zeitkreisen gedacht.

Heute werde Glück mit Wechsel und mit Veränderung verbunden, mit kurzfristigen Bedürfnissen, die sofort befriedigt würden, um dann neue Bedürfnisse wachzurufen. Die biblische Vorstellung sei dagegen eine andere gewesen, unterstrich der Theologe und Buchautor unter anderem zum Thema Glück. Im ersten Psalm werde das Glück des Menschen mit einem Baum verglichen, der an Wasserbächen stehend über lange Zeiten Bestand habe. „Dieses Nachdenken darüber, dass langfristige Zufriedenheit mehr wert ist als kurzfristige Bedürfnisbefriedigung, dass einem das selbst mehr gibt, es aber auch besser für die Umwelt und für andere Menschen ist, das ist ein bis heute wichtiges Erbe des biblischen Weisheitsdenkens.“

Für ein Zeitempfinden in größeren Dimensionen steht Claussen zufolge auch der Bau von Kathedralen im Mittelalter. Mit dem Bau sei in dem Bewusstsein begonnen worden, ein Werk von absoluter Bedeutung zu errichten, auch wenn man selbst die Vollendung nicht erleben werde. „Heute denken wir in der Politik gerade mal in Legislaturperioden und in der Wirtschaft von Quartalsbericht zu Quartalsbericht“, sagte Claussen. „Da finde ich diese Erinnerung an die mittelalterlichen Kathedralen bewegend und inspirierend.“

Ein modernes Werk, das diese Dimensionen aufgreife, sei das Orgelstück von John Cage in der Burchardi-Kirche in Halberstadt, erläuterte der Theologe. Das Stück, das seit 2001 aufgeführt wird, gilt als längstes Musikstück der Welt und ist auf 639 Jahre angelegt. „Ich habe die John-Cage-Kirche in Halberstadt letztes Jahr endlich mal angeschaut und war hingerissen“, sagte Claussen. „Anfangs dachte ich, das ist nur eine spinnerte Idee. Nee, das ist ein wunderbares Kirchenkunstwerk, das einen demütig werden lässt und über den eigenen Tellerrand der Aktualität hinausschauen.“