Berlin (epd). Seit Donnerstagmittag hat die Anwältin Victoria Lies nichts mehr von ihren Mandantinnen und Mandaten gehört. Die schwangere Afghanin sei mit ihrem Ehemann und dem vierjährigen Kind von den pakistanischen Sicherheitskräften zur afghanischen Grenze gebracht worden. Dabei hofften sie auf eine Aufnahme aus Deutschland, die ihnen schon zugesagt wurde. Der Fall ist Teil einer hitzigen Debatte in Deutschland über die Aufnahme von gefährdeten Afghaninnen und Afghanen.
Nach wie vor harren in der pakistanischen Hauptstadt Islambad rund 2.000 Afghaninnen und Afghanen aus, die über ein Aufnahmeprogramm nach Deutschland kommen sollten. Die Koalition aus Union und SPD hatte vereinbart, diese Programme zu beenden. Seitdem gibt es keine neuen Aufnahmen mehr. Währenddessen haben die pakistanischen Behörden begonnen, Afghaninnen und Afghanen ohne gültigen Aufenthaltsstatus abzuschieben. Seit einigen Tagen sind auch Hunderte Menschen mit deutscher Aufnahmezusage inhaftiert und Dutzende abgeschoben worden.
Das hat auch in die Debatte in Deutschland wieder Bewegung gebracht. Außenminister Johann Wadephul (CDU) erklärte am Freitag, das Auswärtige Amt stehe mit der pakistanischen Regierung „hochrangig in Kontakt, um den Schutz dieser Menschen zu gewährleisten und denjenigen, die in den letzten Tagen entweder abgeschoben oder verhaftet wurden, schnell zu helfen“. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) ließ sich von einem Sprecher zitieren: „Wir sind in Kontakt mit den pakistanischen Behörden.“ Endgültig ist immer noch nicht entschieden, wie es weitergehen soll. Das Innenministerium hatte am Mittwoch eine „zeitnahe“ Entscheidung über die Aufnahmen der noch Wartenden angekündigt.
Zwei Hilfsorganisationen gehen unterdessen juristisch gegen Dobrindt und Wadephul vor. Pro Asyl und das Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte haben nach eigenen Angaben Strafanzeige gegen beide Minister gestellt. Diese hätten sich unter anderem der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht, erklärten die beiden Organisationen am Freitag.
„Den von den pakistanischen Behörden abgeschobenen Afghanen und Afghaninnen drohen willkürliche Inhaftierung, Misshandlungen oder gar Hinrichtungen“, erklärte die rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl, Wiebke Judith. Diese Abschiebungen und die Gefährdung der Menschen seien Resultate deutschen Regierungshandelns.
Nach Angaben des Verfassers der Strafanzeige, Strafverteidiger Robert Brockhaus, kann es in dem Verfahren dauern, bis die Staatsanwaltschaft mit den Ermittlungen beginnt, unter anderem, weil sich die Anzeige gegen zwei Bundestagsabgeordnete richte und zunächst deren Immunität aufgehoben werden müsste.
Am 15. August 2021 hatten die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul eingenommen. Seitdem steht das Land unter der Kontrolle der Islamisten. Nach Darstellung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International haben die Taliban das Rechtssystem völlig ausgehebelt. „Nach vier Jahren Taliban herrscht ein repressives Rechtssystem, das sich nicht nur weit von internationalen Menschenrechtsstandards entfernt, sondern auch fast zwei Jahrzehnte Fortschritt zunichtegemacht hat“, erklärte Amnesty-Asien-Expertin Theresa Bergmann. Niemand sei sicher in diesem System, das einzig auf Angst und Unterdrückung setze.