Forscher: Statistisches Bundesamt will Armutszahlen kleinrechnen

Forscher: Statistisches Bundesamt will Armutszahlen kleinrechnen
Armutsforscher werfen dem Statistischen Bundesamt vor, die Zahl der Armutsgefährdeten in Deutschland kleinrechnen zu wollen. Sie nehmen Anstoß an geänderten Daten auf der Homepage der Behörde. Diese widerspricht.

Frankfurt a.M. (epd). In einem Protestbrief wenden sich rund 30 Armutsforscherinnen und -forscher dagegen, dass nur noch die Resultate einer einzelnen Berechnungsmethode zur Quote der Armutsgefährdung in Deutschland veröffentlicht werden. In dem Schreiben, das dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt, heißt es, man habe „mit großer Verwunderung“ festgestellt, dass das Statistische Bundesamt mit einer veränderten Datenpublikation „die Veröffentlichung unterschiedlicher Armutsquoten vermeiden wolle“. Die Behörde weist das zurück.

Die Forschenden beklagen, dass das Bundesamt seine Berechnungsmethode auf eine Variante (EU-SILC/MZ-SILC) reduziert und die Ergebnisse einer anderen Variante (MZ-Kern) von der Homepage rückwirkend gelöscht hat. Das sei brisant, hieß es. Denn nach der einzig verbliebenen Berechnungsmethode habe die Armutsquote deutschlandweit 2023 bei 15,5 Prozent gelegen, nach der gelöschten Methode MZ-Kern aber bei 16,6 Prozent.

Zuerst hatte das „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ (Donnerstag) über das Schreiben an die Amtsleiterin Ruth Brand vom 11. August berichtet. Zu den Unterzeichnern des Briefs gehören der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge und der ehemalige Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider, früheres Mitglied der Linkspartei.

Dem epd sagte ein Sprecher des Bundesamtes, das EU-SILC-Verfahren erfasse das Einkommen von Haushalten und daraus abgeleitet auch das bundesweite Medianeinkommen sehr viel differenzierter als nach der Abfrage im Kernprogramm des Mikrozensus. Es liefere somit qualitativ bessere Ergebnisse für die Armutsgefährdung auf Bundes- und Landesebene: „Damit folgt die amtliche Statistik in Deutschland dem europäischen Standard.“ Für Analysen auf tiefer regionaler Ebene stünden nach wie vor die Ergebnisse aus dem Mikrozensus-Kernprogramm zur Verfügung.

Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens eines Landes zur Verfügung hat. Die Berechnungsmethoden unterscheiden sich insbesondere bei der Definition und Erfassung des Haushaltsnettoeinkommens. In dem Brief der Forscher heißt es: „Es grenzt bereits an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichen und öffentlichem Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden.“

Ulrich Schneider sagte dem epd, jetzt sei die Zahl der Armutsbetroffenen „mal eben um mehr als eine Million Menschen geringer“. Das Bundesamt müsse das umgehend wieder ändern, denn es sei ein nicht akzeptabler Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit. Ihm sei der Wegfall der Daten nach dem Verfahren MZ-Kern erstmals im April aufgefallen, weil er wegen der Vorarbeiten am neuen Armutsbericht auf die neuesten Ergebnisse gewartet habe. Dann habe er vor einigen Wochen festgestellt, dass es nur noch die EU-SILC-Berechnungen gebe: „Alles andere ist verschwunden.“