Berlin (epd). Armutsforscher werfen dem Statistischen Bundesamt vor, die Zahl der Armutsgefährdeten in Deutschland klein rechnen zu wollen. In einem Protestbrief, der dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt, heißt es, man habe „mit großer Verwunderung“ festgestellt, dass das Bundesamt mit einer veränderten Datenpublikation „die Veröffentlichung unterschiedlicher Armutsquoten vermeiden wolle“.
Deshalb werden den rund 30 unterzeichnenden Forscherinnen und Forschern zufolge die Armutsgefährdungsquoten nach dem Bundesmedianeinkommen (Verfahren MZ-Kern) nicht mehr veröffentlicht und auch rückwirkend für die Jahre 2020 bis 2023 von der Homepage gelöscht.
Zuerst hatte das „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ (Donnerstag) über die Kritik berichtet. Zu den Unterzeichnern des Briefs gehören der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge und der ehemalige Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und früheres Linken-Mitglied Ulrich Schneider.
Sie rügen in dem Schreiben vom 11. August an die Amtsleiterin Ruth Brand, dass die Statistiker ihre Berechnungsmethode auf eine Variante (EU-SILC/MZ-SILC) reduziert habe. Die Folge hält Schneider für „brisant“. Denn nach der einzig verbliebenen Berechnungsmethode habe die Armutsquote deutschlandweit 2023 bei 15,5 Prozent gelegen, nach der gelöschten Methode MZ-Kern aber bei 16,6 Prozent.
Das Statistische Bundesamt begründet laut RND die Umstellung der Angaben mit einer EU-weiten Vergleichbarkeit. Bei dieser Methode würden die Einkommensarten jeweils einzeln und ausführlich abgefragt, statt nur als Gesamtsumme. So könne eher als im bisherigen Verfahren vermieden werden, dass auskunftspflichtige Einkommen, die insbesondere nicht aus Erwerbsarbeit stammen, unabsichtlich unberücksichtigt ließen. Das betreffe zum Beispiel staatliche Leistungen wie Kindergeld, Kinderzuschlag, BAföG, Pflegegeld oder Wohngeld, erklärte das Bundesamt dem Bericht zufolge.
Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens eines Landes zur Verfügung hat. Die Berechnungsmethoden unterscheiden sich insbesondere bei der Definition und Erfassung des Haushaltsnettoeinkommens.
In dem Brief der Forscher heißt es: „Es grenzt bereits an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichen und öffentlichem Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden.“
Schneider sagte dem epd, jetzt sei die Zahl der Armutbetroffenen „mal eben um mehr als eine Million Menschen geringer“. Das Bundesamt müsse das umgehend wieder ändern, denn es sei ein nicht akzetabler Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit. Ihm sei der Wegfall der Daten nach dem Verfahren MZ-Kern erstmals im April aufgefallen, weil er wegen der Vorarbeiten am neuen Armutsbericht auf die neuesten Ergebnisse gewartet habe. Dann habe er vor einigen Wochen festgestellt, dass es nur noch die EU-SILC-Berechnungen gebe: „Alles andere ist verschwunden.“