Die koreanische Neureligion ist an drei Standorten in Deutschland vertreten. Der größte Standort ist in Frankfurt, weitere gibt es in Essen und Berlin. Vor allem junge Menschen werden durch Themen wie Frieden, Gemeinschaft oder Spiritualität in Bibelkurse gelockt. Dort finden sie sich in einem System aus Lügen, Tarnung und Täuschung wieder.
evangelisch.de: Herr Koch, Sie haben gemeinsam mit dem Theologen Johannes Lorenz das erste Buch auf Deutsch über die aus Ihrer Sicht gefährliche und konfliktreiche Neureligion Shincheonji geschrieben. Können Sie kurz erklären, worauf diese neue Religion basiert?
Oliver Koch: Der Name "Shincheonji" kommt aus dem Koreanischen und heißt übersetzt "Neuer Himmel und neue Erde". Diese Neureligion wurde in Südkorea gegründet und ist seither international gewachsen. Die Theologie von Shincheonji ist untrennbar mit der Person des Gründers Man-Hee Lee (geb. 15. September 1931) verknüpft. Er sieht sich als den verheißenen "Pastor der Endzeit", der das Volk Gottes sammelt, um es auf das Kommen Jesu vorzubereiten. Er zeigt sich oft mit einem weißen Anzug und hält in seiner Hand eine kleine Eisenstange, welche symbolisieren soll, dass er die "Macht über die Völker" habe und bezeichnet sich selbst als körperlich unsterblich.
In seinem Selbstverständnis beruft er sich auf verschiedene Stellen aus der Offenbarung des Johannes. Weiterhin behauptet er, dass er allein die Bibel "richtig" auslegen könne, und begründet damit ein umfangreiches System an Kursen, Lernstoffen und Prüfungen für die Mitglieder. Man-Hee Lee geht davon aus, dass das 6000-jährige Werk Gottes zu vollenden sei und die Offenbarung – gemeint sind die Verheißungen aus Offb 2 und 3 – durch ihn wortwörtlich erfüllt werden müssten.
Katja Eifler volontierte nach ihrer Studienzeit im Lokalradio im Rhein-Kreis Neuss. Anschließend arbeitete sie als Radioredakteurin. Später als Redaktionsleiterin eines Wirtschaftsmagazins am Niederrhein. Seit April 2023 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig. Weiterhin arbeitet sie nebenbei als freischaffende Journalistin, Online-Texterin, Coach und Moderatorin.
Die Mitglieder von Shincheonji sind davon überzeugt, einen neuen Himmel und eine neue Erde zu errichten. Mit ihrer Gründung beginnt in ihren Augen die Zeit der zwölf Stämme mit 144.000 Priestern. Jeder Stamm soll 12.000 Mitglieder sammeln, damit sich am Ende der bereits im Himmel erfüllte Zustand auch auf Erden verwirklichen könne.
"Die Polarität zwischen der "wahren Lehre in Shincheonji" einerseits und den "abgefallenen satanischen Kirchen" andererseits ist wesentlich für das heilsgeschichtliche Selbstverständnis von Shincheonji"
Die Erfüllung der Offenbarung beginnt nach dem Selbstverständnis Shincheonjis in Korea, dem "Licht aus dem Osten". Die Mitglieder, die sich bereits als Teil der Erfüllung der Offenbarung sehen, dürfen dabei nicht mehr zur Welt gehören, die als satanisch abgewertet wird.
Welchen Stellenwert hat diese Religion denn in Deutschland? Und wie tritt sie bei uns auf?
Koch: Seit ca. 2010 gibt es Missionierungsaktivitäten in Deutschland. Die Mitgliederzahl ist mit ca. 3000 recht überschaubar. Dort, wo Shincheonji mit entsprechenden Umfeldorganisationen wie Heavenly Culture, World Peace, Restoration of Light oder international tätigen Jugendorganisationen wie IPYG oder IPWG bzw. in getarnten Bibelkurse auftritt, gibt es eine große Verunsicherung und Irritation bei den Betroffenen und ihrem sozialen Umfeld.
In ihrem Buch untersuchen Sie die Mechanismen, durch die Menschen in dieser Neureligion zunächst gebunden und dann abgeschottet werden. Dabei fängt doch alles ganz harmlos mit Bibellesen oder Friedensarbeit an?
Koch: Zu Beginn des Kontaktes weiß man nicht, mit wem man es eigentlich zu tun hat. Das macht diese Neureligion intransparent und evoziert sehr schnell Probleme im privaten und sozialen Umfeld. Shincheonji missioniert gezielt Mitglieder anderer Kirchen. Vor allem Freikirchen aber auch landeskirchliche Gemeinden berichten, dass sie Unterwanderungsaktivitäten wahrnehmen. Kirchliche, private und staatliche Beratungseinrichtungen haben es seit Jahren verstärkt mit Anfragen zu tun.
"Shincheonji missioniert gezielt Mitglieder anderer Kirchen"
Es ist ja gut, sich mit der Bibel zu beschäftigen und auch, sich für Frieden einzusetzen. Wenn dies allerdings intransparent geschieht oder instrumentalisiert wird und damit der Missionierung in eine Gruppe dient, die man gar nicht kennt, dann ist es problematisch. Jeder Mensch kann zum Glück seine Religion oder Weltanschauung in Deutschland frei wählen. Das gilt auch uneingeschränkt für Shincheonji-Anhänger:innen. Aber sie sollten sich auch vorher transparent und frei darüber informieren können, worauf sie sich einlassen und sich nicht irgendwann in einem System wiederfinden, von dem sie vorher nichts geahnt haben.
Was macht Sie aus ihrer Sicht so gefährlich?
Koch: In unserer Beratungsarbeit tauchen bei Betroffenen und Menschen aus ihrem persönlichen Umfeld vor allem folgende Problematiken immer wieder auf:
• Zerbrechen von Familien und sozialen Beziehungen aufgrund eines ausgeprägten Dualismus.
• Probleme in der Berufsausübung bis hin zur Aufgabe des Berufes oder der Ausbildung aufgrund intensiver Missionierungstätigkeit.
• Vielfältige psychische Probleme: Angstzustände aufgrund von Endzeitbefürchtungen, dem Gefühl, "nicht genug geglaubt zu haben" oder "von Gott bestraft zu werden".
• Vermeidungsstrategien aufgrund von Ängsten vor erneuter Begegnung nach Ausstieg.
• Psychische Erschöpfungszustände aufgrund zeitintensiven Lernens und Aktivitäten für die Gemeinde.
• Schwierigkeiten, erneut Vertrauen zu schöpfen aufgrund der Täuschungserfahrungen und der Erfahrung, dass Freundschaften und Beziehungen vorgespielt wurden.
Ihr Buch beinhaltet auch ein sehr persönliches Fallbeispiel einer jungen Frau. Anna, so ist sie benannt, schafft den Ausstieg aus dem sie zerstörenden Netzwerk, nachdem sie schlicht weder körperlich noch psychisch durchhalten kann. Warum zerstören die Verantwortlichen ihre Mitglieder so, davon haben sie doch nichts? Vielleicht wäre Anna nach einer Pause am Ball geblieben?
Koch: Das mag sein. Fakt ist, dass "Anna" dem enormen Druck nicht standhalten konnte und dass sie psychisch und körperlich zusammengeklappt ist. Hilfe hat sie bei Shincheonji nicht erfahren, nur die Aufforderung, mehr zu glauben und zu missionieren. Mit solchen Verläufen haben wir es in der Beratungsarbeit zu tun. Aber man muss auch sagen, dass es Zeiten gab, in denen sich "Anna" bei Shincheonji wohlgefühlt hat und das, was sie suchte, gefunden hat. Warum die Verantwortlichen bei Shincheonji keine Konsequenzen daraus ziehen, dass es an den Methoden viel Kritik aus ganz unterschiedlichen Perspektiven gibt, da müssen Sie sie schon selbst fragen. Eine Antwort darauf haben wir nie bekommen – aber das wäre mal spannend zu hören.
Sie geben viele praktische Tipps zum Umgang für Betroffene, Angehörige, Institutionen und Beratende. Was ist aus ihrer Perspektive einer der wichtigsten?
Koch: Jeder Beratungsfall ist sehr individuell, daher sollte man sich professionelle Begleitung bei Fragen suchen. Lieber einmal mehr als einmal zu wenig nachfragen! Ganz wichtig ist für Familien und soziale Systeme, sich nicht auseinanderreißen zu lassen, etwa durch Schweigeaufforderungen oder den Gedanken, dass Kritik eine dämonische Versuchung wäre, von der man sich fernhalten sollte. Angehörige sollten zum einen nicht in Panik geraten und zum anderen auf ihre eigenen Schmerzgrenzen und Belastungstoleranzen achten.
Wie ist die Haltung der Kirche zu Shincheonji?
Koch: Die Gruppierung wird von ökumenisch verbundenen christlichen Kirchen übereinstimmend als exklusivistische christliche Sondergemeinschaft mit neuoffenbarerischen Elementen eingeordnet.
Wenn Sie diese "Glaubensgemeinschaft" in die Landschaften anderer sogenannter "Sekten" einordnen müssten - Ist sie typisch? Besonders perfide oder schlau?
Koch: Das Besondere ist, dass auf Shincheonji nahezu alle "Merkmale einer konfliktträchtigen religiösen Bewegung" passen. Dazu kommen die militärisch anmutende Erscheinung und Uniformierung. Vieles kann man versuchen, interkulturell zu verstehen. Aber auch in Korea, dem Ursprungsland selbst, ist Shincheonji hochumstritten.
Gibt es Zahlen, wie vielen Menschen ein Ausstieg gelingt aus diesem System?
Da habe ich keinen Überblick. Anfragen zu Shincheonji finden Sie jedoch in den Statistiken aller privaten, staatlichen und kirchlichen Beratungsstellen (etwa Zebra BaWü, Sekten Info NRW, SektenInfo Berlin, EZW Berlin, evangelisch-landekirchliche oder katholische Beauftragte etc.). Auch dies zeigt die Konfliktträchtigkeit der Gruppierung und dass es kein punktuelles Problem mehr ist.
An wen können sich Ratsuchende wenden?
Koch: Bei Fragen oder Unsicherheiten, etwa ob es sich bei einem Bibelkurs um einen Shincheonji-Tarnkurs handelt, wenden Sie sich am Besten an professionelle staatlichen, private oder kirchliche Beratungsstellen. Einen Überblick finden Sie hier. Eine kostenlose Handlungsempfehlung zum Umgang mit Shincheonji können Sie hier downloaden.
Buchtipp
Welche Mechanismen und psychologischen Manipulationen Shincheonji anwendet, beschschreiben die beiden Autoren in ihrem Buch.
Die Seelenfänger von Shincheonji
Oliver Koch (Pfarrer, psychologischer Berater und Referent für Weltanschauungsfragen am Zentrum Ökumene der Ev. Kirche Hessen und Nassau), Johannes Lorenz ( Dr. der Theologie, Studienleiter im Frankfurter Haus, Berater für den Bereich Weltanschauungen und neue religiöse Bewegungen) ISBN 978-3-451-02495-5