Diesmal hat der Österreicher (Buch und Regie) eine Anthologie konzipiert. Die sechs im Schnitt 25minütigen Miniaturen funktionieren unabhängig voneinander. Allerdings gibt es kleine Überschneidungen. Deshalb empfiehlt es sich, sie in der von der ARD empfohlenen Reihenfolge anzuschauen, weil zum Beispiel eine Figur aus der Folge "Regensburg" in einem späteren Film für eine gänzlich unerwartete Überraschung sorgt.
Inhaltlich sind die Beiträge völlig unterschiedlich. Einige sind witzig, andere eher dramatisch, aber alle eint der sogenannte Plot-Twist: Gegen Ende verblüfft Schalko meist durch ein Detail, das sich, in einem Fall sogar buchstäblich, als Falltür entpuppt und die Handlung in eine komplett andere Richtung katapultiert. Die prominente Besetzung einiger Filme hat allerdings zur Folge, dass andere schauspielerisch kraftlos wirken, weshalb sich zwanzig Minuten zuweilen deutlich länger anfühlen.
Das könnte der Grund sein, warum "Cowboys" den Auftakt macht: Charly Hübner spielt in dem amüsanten Zwei-Personen-Stück den abgehalfterten und hochverschuldeten Country-Schlagersänger Jeff Kanter, der durch deutsche Wohnzimmer tingelt und dort für tausend Euro pro Abend Lieder wie "Bier für Helden" zum Besten gibt. Die lustige Witwe Monika erhofft sich allerdings mehr als bloß einen gesanglichen Abend; prompt tut sich ein Abgrund auf.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ein Kammerspiel im Zugabteil ist "Regensburg": Die Personalchefin (Nora Waldstätten) eines großen Unternehmens musste drei Dutzend Leute entlassen. Als der Zug wegen eines Personenschadens auf offener Strecke hält, entspinnt sich ein Gespräch zwischen ihr und dem zugestiegenen Psychologen, der sich eigentlich des Zugführers annehmen sollte. Der Clou dieser Geschichte offenbart sich allerdings erst einige Filme später.
Während "Cowboys" und "Regensburg" nicht zuletzt durch die darstellerische Leichtigkeit erfreuen, wirken die Darbietungen in "Lebenskerze" auch dialogisch etwas zäh: An einem runden Geburtstag, er wird sechzig, teilt ein Polizist (Robert Palfrader) seinen ausgeprägt Ich-bezogenen erwachsenen Kindern mit, dass er sich aufgrund einer Alzheimer-Diagnose das Leben nehmen will.
Zwischendurch wird’s etwas anstrengend, aber es lohnt sich dringend, bis zum Auftritt Katharina Thalbachs als "Stargast" dranzubleiben. Außerdem belohnt Schalko die Geduld mit gleich zwei Wendungen, die erst den Kindern und dann dem Vater den Boden unter den Füßen wegziehen. Die Handlung von "Freunde" wiederum – ein Großmaul wird von einem Unbekannten entführt, der unbedingt eine Beziehung entwickeln möchte – ist allzu konstruiert; allerdings bringt auch hier der Polizist Bewegung ins bis dahin allzu ereignisarme Geschehen.
Der mit Abstand ungewöhnlichste Beitrag ist "Mondfenster". Die Handlung wirkt, als hätte Stephen King eine anschließend von M. Night Shyamalan verfilmte Science-Fiction-Story mit Anleihen bei Franz Kafka verfasst: Eine offenkundig von allerlei Verschwörungserzählungen geleitete dreiköpfige Familie lebt in einem einsam gelegenen und innen mit Alufolie verkleideten Bauernhaus. Der Junge schießt mit seiner Schrotflinte Krähen vom Himmel, weil er sie für Drohnen hält. Der Vater (Detlev Buck) ist überzeugt, dass die Gravitation der Erde kontinuierlich abnimmt, weshalb die Menschen eines Tages mir nichts, dir nichts vom Planeten purzeln werden. Dahinter verbirgt sich seiner Ansicht nach ein perfider Plan von Außerirdischen. Die stehen eines Abends tatsächlich in der mit allerlei wissenschaftlichen Gerätschaften ausgestatteten Stube und machen dem Vater ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. Der Knüller, mit dem der der Film endet, wird nur noch durch den Abschluss des etwas geschwätzigen letzten Films ("Casa Carmen") übertroffen.
Neben den zum Teil sehr originellen Geschichten zeichnet sich die Anthologie nicht zuletzt durch besonderes Handwerk aus. Ähnlich wie beim klassischen Spießerwohnzimmer von Jeff Kanters Edelfan hatte Ausstatterin Su Erdt garantiert große Freude am Szenenbild von "Mondfenster". Gewohnt sorgfältig ist auch die Kameraarbeit von Schalkos Stammkameramann Martin Gschlacht, und gerade in "Cowboys" setzt Komponist Kyrre Kvam mit seiner Western-Musik sehr präsente Akzente. Schade, dass es im "Ersten" keinen Platz für Kurzfilme gibt; die ARD zeigt die Anthologie daher beim Tochtersender One.