Berlin (epd). Antisemitismus ist in Deutschland neuen Daten zufolge auf dem Vormarsch. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) zählte 2024 gut 8.600 antisemitische Vorfälle, 77 Prozent mehr als 2023, wie der Verein am Mittwoch mitteilte. Hintergrund seien der Hamas-Überfall auf Israel im Oktober 2023 und der danach begonnene Krieg im Gaza-Streifen, erläuterte Rias-Geschäftsführer Benjamin Steinitz: „Die Gefahr, als Jude und Jüdin in Deutschland angefeindet zu werden, hat sich seit dem 7. Oktober objektiv erhöht“, sagte er bei der Vorstellung des Berichts in Berlin.
Die für 2024 ermittelte Zahl ist die bislang höchste in der 2020 begonnenen Zählung des Vereins. Rechnerisch ereigneten sich pro Tag knapp 24 Vorfälle - und es deutet sich kein Abflauen an: „Im Gegenteil, die Lage für Jüdinnen und Juden in Deutschland hat sich weiter verschärft“, sagte die wissenschaftliche Referentin beim Rias, Bianca Loy.
In einzelnen Kategorien war die Entwicklung besonders ausgeprägt. „Nie zuvor wurden uns in einem Kalenderjahr mehr gegen Jüdinnen und Juden gerichtete Angriffe bekannt als im vergangenen Jahr“, sagte Steinitz. „Nie zuvor wurden uns mehr antisemitische Vorfälle auf der Straße, in Bildungseinrichtungen, an Gedenkorten oder im Internet bekannt.“
Die Zahl der antisemitischen Vorfälle an Hochschulen verdreifachte sich dem Jahresbericht zufolge beinahe von 151 auf 450. Im Jahr 2022 waren lediglich 23 Fälle gezählt worden. Loy wies daraufhin, dass es auch bereits an Grundschulen zu Vorfällen gekommen sei. So würden etwa Kinder ausgeschlossen, weil sie Israelis seien.
Der Rias ordnet die erfassten Vorfälle, wenn möglich, einem politisch-weltanschaulichen Hintergrund zu. 2024 gelang dies in 43 Prozent der Fälle. Der größte Anteil bei den zugeordneten Vorfällen entfiel auf antiisraelischen Aktivismus mit 26 Prozent, nach zwölf Prozent im Vorjahr. Dahinter folgte ein rechtsextremer oder rechtspopulistischer Hintergrund mit sechs Prozent. Die absolute Fallzahl von 544 war in dieser Kategorie die höchste seit Beginn der bundesweiten Rias-Auswertung.
„Hass gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland hat sich auf einem beschämenden Niveau normalisiert“, sagte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, auf der Pressekonferenz. Im Bereich der Prävention und der Gegenmaßnahmen habe sich schon viel getan. Dennoch müsse Antisemitismus „noch fokussierter, intensiver und erfolgreicher“ bekämpft werden. Hier sei die ganze Gesellschaft gefragt, unterstrich Klein.
Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU) sprach von einer alarmierenden Entwicklung. „Antisemitismus ist kein Randphänomen, sondern eine reale Bedrohung für das jüdische Leben in Deutschland“, sagte sie dem „Tagesspiegel“ (online). „Dass jüdisches Leben in Deutschland sichtbar und sicher ist, gehört zur DNA demokratischer Politik.“ Sie wolle, „dass wir als Gesellschaft gemeinsam dafür eintreten“, fügte Prien hinzu. Es gehe um „staatliche und gesellschaftliche Verantwortung“.
Für den Rias-Bericht wurden Vorfälle ausgewertet, die dem Bundesverband, den regionalen Meldestellen oder einer kooperierenden Organisation zugetragen wurden. Die Meldungen wurden den Angaben zufolge verifiziert und analysiert. Der Bundesverband betont, dass er von einer hohen Dunkelziffer ausgeht.