Die Bibel für Blinde: Punkte, die verbinden

Hände tasten ein Buch mit Blindenschrift ab
pexels / Mikhail Nilov
Die Bibel kann heute relativ leicht in Brailleschrift übertragen werden.
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Die Bibel für Blinde: Punkte, die verbinden
Die Bibel kann heute relativ leicht in Brailleschrift übertragen werden. So können blinde Menschen auf der ganzen Welt die Heilige Schrift selbst lesen – immer öfter auch in ihrer eigenen Sprache, in der Sprache ihres Herzens. Die Schrift, benannt nach ihrem Erfinder Louis Braille, feiert in diesem Jahr ihren 200. Geburtstag. Sie ist so genial konzipiert, dass ihr Potenzial seit der Erfindung im Jahr 1825 bis heute stetig gewachsen ist. Ingrid Felber-Bischof wirft einen Blick auf ihre Geschichte.

Es war jedesmal ein überwältigender und zutiefst bewegender Moment, wenn ich miterleben durfte, wie eine Passage aus der Bibel zum allerersten Mal in einer neuen Sprache aus einem neu gedruckten Buch in Brailleschrift vorgelesen wurde. Am Lesepult stand ein blinder Mensch, öffnete erstmals das Buch und begann laut vorzulesen, während er oder sie mit den Fingern die Punkte abtastete.

Uns allen war bewusst: Niemals zuvor war dieser Bibeltext in diesem Format in dieser Sprache gedruckt, gelesen und hörbar geworden. Und ob blind oder sehend: Wir waren alle gleichermaßen ergriffen. Viele hatten die Augen geschlossen, manche hielten den Atem an, andere kämpften mit den Tränen. Manchmal stockte denjenigen, die vorlesen durften, der Atem, ihre Stimme versagte, und sie mussten selbst erst ihre Fassung zurückgewinnen, bis sie weiterlesen konnten.

Wenn im Anschluss daran, so wie in Uganda bei der Feier der neuen Braille-Bibel in der Sprache Luganda, eine Gruppe blinder Schüler:innen ihrer überbordenen Freude durch Gesänge und Tanz auf der Bühne Ausdruck verlieh, war für mich spürbar, dass sie mit diesen neuen Bibeltexten in Brailleschrift immer auch Louis Braille feierten: Seine Erfindung vor 200 Jahren lässt sie heute als Menschen und eigenständige Persönlichkeiten am Leben teilhaben. Dass er damit die Wahrnehmung füreinander auf der ganzen Welt verändert hat, ist um so mehr ein Grund, gemeinsam zu feiern.

1825 hatte der 16-jährige Schüler Louis Braille sein Punktschriftsystem bereits fertig entwickelt. Damals besuchte er das "Königliche Institut für junge Blinde" in Paris, das 1784 als erstes Blindeninstitut der Welt gegründet worden war. Durch Vermittlung des Gemeindepfarrers seines Heimatdorfes Coupvray war er im Alter von zehn Jahren aufgrund seiner Begabungen an dieses Institut gekommen; nur zwei Jahre später begann er, eine Idee zur Vereinfachung einer tastbaren Punktschrift auszuarbeiten, auf die er durch Kenntnis einer komplizierten tastbaren militärischen "Nachtschrift" gekommen war.

Seine Mitschüler:innen und danach auch seine eigenen Schüler*innen am Institut in Paris, wo er mit 19 Jahren selbst Lehrer wurde, nahmen sein Punktschriftsystem mit Begeisterung auf! Sogar eine erste kleine Bibliothek mit Büchern in Brailleschrift entstand in dieser Zeit und wurde in der Schule eingerichtet – darunter auch zwei Bände mit Geschichten und Erzählungen aus dem Alten und Neuen Testament. In ihrer Freizeit hatten die geübtesten blinden Schüler*innen die Punkte in Papier gestochen, während die Texte von zwei sehenden Lehrer*innen vorgelesen wurden. Ich kann mir die Begeisterung vorstellen, die die Gruppe bei ihrer Arbeit an den ersten Büchern erfasst hatte.

Vom Reliefdruck zur Brailleschrift

Trotzdem sollte es noch über 25 Jahre dauern, bis Brailles Punktschrift sich bei den Verantwortlichen des Instituts und danach über die Schule hinaus, landesweit und sogar weltweit durchgesetzt hatte. Wenige Monate vor seinem frühen Tod im Jahr 1852 durfte er noch miterleben, dass das Institut, in dem er seit seinem 19. Lebensjahr selbst als Lehrer gearbeitet hatte, seine Punktschrift offiziell einführte.

Vor der Entwicklung und allgemeinen Akzeptanz der Punktschrift war das Lesen für blinde Menschen ein langsamer und mühevoller Prozess gewesen. Man stellte große Holzlettern oder Buchstabenschablonen her, mit deren Hilfe sie sich die Form unserer gedruckten Buchstaben ins Gedächtnis einprägen sollten. Zum selbstständigen Lesen konnten sie ihre Fähigkeiten aber erst einsetzen, als erste Bücher im sog. "Reliefdruck" hergestellt wurden: Große Buchstaben des Alphabets wurden so auf Papier geprägt, dass man mit den Fingern ihre Umrisse abtasten konnte.

Heute ist es für uns offensichtlich, dass dieses Lesesystem eine sehr lineare, visuell geprägte Übertragung aus der Welt der Sehenden in die Welt der Blinden war; die komplizierten Formen gedruckter Buchstaben mit den Fingern abzutasten und zu memorieren war keine logische und deshalb auch keine leichte Aufgabe. Erst die Codierung von Buchstaben in Louis Brailles überschaubarem und logischem Sechspunkte-System machte blinden Menschen das Lesen einfach, weil sie ihren ausgeprägten Tastsinn dabei als echte Stärke einsetzen konnten.

Dass es so lange dauerte, bis Brailles geniales Punktschriftsystem sich überall durchsetzte, lag auch daran, dass die Verantwortlichen – zumeist Sehende – befürchteten, die Kontrolle über das zu verlieren, was blinde Menschen lesen, schreiben und kommunizieren würden. Man sprach anfangs auch von der Gefahr einer zunehmenden Spaltung, wenn man blinden Menschen gestatten würde, ein anderes System zum Lesen und Schreiben zu nutzen, zu dem Sehende keinen Zugang hätten. Damals wurde die Brailleschrift als trennendes Element gesehen; heute wird sie als ganz starkes Instrument der Inklusion verstanden, die die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und Fähigkeiten und den Zugang zu Wissen und zur Partizipation in der Gesellschaft ermöglicht.

Druck der ersten Punktschrift-Bibel in der Schweiz 

Während sich die Brailleschrift in den meisten Ländern erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzte, wurde Brailles Punktschrift in der Blindenschule des "Asile des Aveugles" in Lausanne bereits seit 1852 im Unterricht benutzt. Ab 1860 wurden in der dortigen Druckerei auch Bücher in Punktschrift gedruckt. Als erstes Buch war am 31.12.1860 das Johannes-Evangelium fertiggestellt worden. Bis 1866 war dann die erste komplette Braillebibel erschienen. Sie umfasste 32 grosse Bände mit insgesamt 4600 Seiten und hatte ein Gewicht von 60 Kilogramm.

In Deutschland wurde die Bibel zu dieser Zeit weiterhin im Reliefdruck erstellt. Seit den 1830er Jahren hatte man damit begonnen, einzelne Texte aus der Bibel in dieser Form herauszugeben, um auch blinde Menschen versorgen zu können. 1863 bot die Württembergische Bibelanstalt als einzige in Deutschland die gesamte Bibel in ca. 60 Bänden im Reliefdruck an. Sie wurde 1867 auf der Weltausstellung in Paris mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet.

In den 1890er Jahren begannen die ersten Bibelgesellschaften dann damit, Bibeln nicht mehr als Reliefdruck sondern in Punktschrift zu drucken, darunter auch die Bibelgesellschaften in Amerika und England. So konnte die Württembergische Bibelanstalt 1897 die ersten biblischen Bücher der Lutherbibel in Brailleschrift von der Bibelgesellschaft in London beziehen. Bis 1908 wurden alle Bücher des Alten und Neuen Testaments in Punktschrift fertiggestellt.

Von der Handarbeit zum Softwareprogramm

Die ersten Bücher in Punktschrift wurden noch, wie damals in Louis Brailles Schule, in mühsamer Handarbeit erstellt: mit Schreibtafel-Raster und Stechgriffel. Eine sehende Person las vor, während blinde Menschen die Punkte seitenverkehrt – von rechts nach links – in das Papier drückten. Die Erfindung einer Punktschrift-Schreibmaschine am Ende des 19. Jahrhunderts war ein erster Schritt zur Vereinfachung des Prozesses: Die Schreibmaschine brauchte nur sechs Tasten, eine für jeden der sechs Punkte des Schriftsystems, dazu eine Leertaste und jeweils eine Taste, um einen Schritt vorwärts oder rückwärts zu gehen. Doch auch wenn die Maschine die Texterfassung beschleunigte, musste jede Einzelseite eines Buches immer noch von Hand erstellt werden.

Allmählich wurde diese Methode dann von einem neuen Verfahren abgelöst, dem sogenannten "Punzieren". Nun wurden die Punkte für jede Seite von einer Punziermaschine auf eine Platte geprägt, von der man danach erstmals beliebig viele Abdrucke auf Papier machen konnte. Allerdings brauchte man nach dem Druckvorgang viel Platz, um alle Platten zu lagern, damit sie für einen späteren Nachdruck wieder zur Verfügung standen. Das elektronische Zeitalter revolutionierte dann seit den 1990er Jahren die Herstellung von Büchern in Punktschrift. Heute können Textdateien mit einer speziellen Software in Brailledateien umgewandelt und dann direkt auf einem Brailledrucker ausgedruckt werden.

Die besonderen Herausforderungen bei der Umsetzung von Bibeltext in Braille
Wie finde ich in der Brailleschriftausgabe eines biblischen Buches möglichst schnell ein bestimmtes Kapitel und einen bestimmten Vers? Kapitel- und Verszahlen sind hier fortlaufend im Text eingebunden. Wenn ich mich aber durch alle Seiten tasten muss, bis ich die gesuchten Zahlen unter Tausenden von Buchstaben-Punkten gefunden habe, ist das in der Praxis nicht machbar. Wie lässt sich das Problem lösen? Und wie ist das mit den poetischen Büchern der Bibel, wie beispielsweise den Psalmen? Wenn jeder Vers auch in Brailleschrift in einer neuen Zeile beginnt, wird das gesamte Buch dadurch gleich noch viel umfangreicher, und wegen des erhöhten Papierbedarfs noch teurer. Könnte ein Versende vielleicht auch durch ein Sonderzeichen in Braille markiert werden?

Das sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass es für die Umsetzung von Bibeltext zusätzliche Vereinbarungen brauchte, um blinden Menschen eine leichte Navigation im Text zu ermöglichen und sie gegenüber Sehenden im Leseprozess nicht zu benachteiligen. Da die Brailleschrift auf der ganzen Welt genutzt wird und Bibeltext in allen Sprachen dieselbe Struktur hat, musste hier ein internationales Regelwerk entwickelt werden. 

Eine große Konferenz, einberufen vom Weltverband der Bibelgesellschaften und der Christoffel Blindenmission, nahm sich 1983 dieser Aufgabe an. Fachleute aus der ganzen Welt trafen sich in Darmstadt und erarbeiteten ein Regelwerk, das von Blindenorganisationen, Institutionen und Bibelgesellschaften weltweit angenommen wurde. Es ist bis heute die Grundlage für die Umsetzung von Bibeltext.

Näher am Menschen

Auch Bibeltextdateien lassen sich heute, so wie andere Textedateien, mittels einer speziellen Software in Brailledateien umwandeln, die dann auf einem Braille-Drucker ausgedruckt werden können. Neben dem Braille-Alphabet der betreffenden Sprache sind in der Software dabei zusätzlich auch die besonderen Formatierungsregeln für Bibeltext hinterlegt.
Die Vorteile sind enorm: Während früher bei einem Braille-Projekt nicht mehr als drei bis vier neue Bücher der Bibel pro Jahr fertiggestellt werden konnten, lässt sich heute der komplette Bibeltext innerhalb einiger Wochen umsetzen und steht zum Druck bereit. Das erlaubt eine ganz andere zeitliche Projektplanung – aber es gibt vor allem denjenigen, die sehnlich darauf warten, die Bibel selbst in Händen zu halten und lesen zu können, einen viel schnelleren Zugang.

Anstatt auf die komplizierte technische Herstellung können Bibelgesellschaften sich heute stärker auf die Betroffenen konzentrieren. Wer blinde Menschen erreichen will, muss sich zu ihnen auf den Weg machen, muss zuhören und lernen, was wirklich gebraucht wird: Programme, die Menschen miteinander verbinden, Sehende wie Nichtsehende, so dass niemand mehr ausgeschlossen ist. Die Zahl blinder Menschen wird heute weltweit auf 43 Millionen geschätzt; Tendenz steigend. IABP, die "International Agency for the Prevention of Blindness", rechnet bis zum Jahr 2050 mit einem Anstieg auf 61 Millionen.

Die Isolation blinder Menschen durchbrechen

Eine Herausforderung bleibt: Eine komplette Bibel in Brailleschrift kostet durchschnittlich immer noch etwa 50-mal so viel wie eine gedruckte Bibel. Damit ist sie für die meisten blinden Menschen unerschwinglich. Denn global gesehen gilt: Wer blind ist, ist meist auch arm.

Umso wichtiger sind die Braille-Projekte der Bibelgesellschaften. Hier können blinde Menschen der Bibel und anderen Menschen begegnen. Sie wachsen im Glauben, entwickeln ihr Selbstwertgefühl und entdecken ihr eigenes Potenzial. Sie können sich einbringen, in den eigenen Familien, in Kirchen, Gemeinden, Schulen, Universitäten, bei der Arbeit, wo immer sie sind. Durch den direkten Kontakt zwischen Blinden und Sehenden lernen alle voneinander, was Inklusion bedeutet. Bibelgesellschaften tragen wesentlich dazu bei, die Isolation blinder Menschen zu durchbrechen und über die Bibel, die im Zentrum jedes Projektes steht, Gemeinschaft für alle zu schaffen. Das wirkt positiv in die ganze Gesellschaft hinein.

Ebenso berührend wie die Präsentation einer neu erstellten und erstmals gedruckten Braille-Bibel zu erleben, war es für mich in den Monaten und Jahren danach, immer wieder von Neuem zu sehen und von allen Seiten zu hören, welche Dynamik und Wirkung ein neues Braillebibelprojekt entwickelt hat: wieviele Menschen eingebunden wurden, und wie sehr sich die Wahrnehmung füreinander ebenso wie das Leben jedes Einzelnen durch die neu geschaffene Gemeinschaft zwischen Sehenden und Nichtsehenden verändert hat. Das ist ein Segen, und es ist ein schöner Grund, den Wegbereiter Louis Braille in diesem Jahr gemeinsam zu feiern.

evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation.