An diesem Abend herrscht im Danziger Hafen reges Treiben. Abseits der Öffentlichkeit werden aus dem Bauch eines Schiffes Militärfahrzeuge aller Art für die Ukraine entladen. Mit zivilen Lkw werden die Fahrzeuge ins Nachbarland gebracht. Der Ukrainekrieg ist hier greifbar nah. "Danzig ist ein Hub", erklärt Marian Zawadka. Er hat die seltene Erlaubnis, diesen Hochsicherheitsbereich des Hafens zu betreten. Der 59-Jährige ist nur indirekt in die militärischen Aktivitäten involviert. Marian Zawadka arbeitet für die katholische Seemannsmission "Stella Maris" – ein wahrer Tausendsassa: Fahrer, Betreuer, Bürokraft.
Die Seemannsmission liegt im hinteren Teil einer Gemeinde. Im Untergeschoss können Seeleute aus aller Welt Kontakt zu ihren Familien aufnehmen, Billard oder Tischtennis spielen oder einfach entspannen und plaudern. Nach einigen Stunden geht es wieder an Bord, zum nächsten Hafen. Von Danzig aus müssen die Schiffe über die Ostsee und dann entweder durch den Nord-Ostsee-Kanal oder, im Falle der großen Containerschiffe, um Dänemark herum in die Nordsee und weiter in den Atlantik fahren.
Seit der russischen Invasion in der Ukraine vor fast drei Jahren ist die Ostsee zumindest aus europäischer und deutscher Sicht zu einem sicherheitspolitischen Brennpunkt geworden. Seit Monaten berichten die Medien über die sogenannte russische Schattenflotte: Zivile Schiffe, die im Auftrag des Kremls Daten- und Stromleitungen sabotieren – Militärs und Sicherheitsexperten sprechen von einem hybriden Krieg Russlands gegen die NATO-Mitgliedsstaaten.
Die latente Gefahr auf dem Binnenmeer könnte Gesprächsthema der Seeleute sein. Doch Marian Zawadka verneint: Die Seeleute möchten bei "Stella Maris" eine gute Zeit haben und sich von ihrem oft knochenharten Job erholen. "Wir sind alle Brüder, wir arbeiten zusammen", lautet das Credo der Seeleute weltweit. Der Ukrainekrieg sei kein Thema, nicht einmal in vertraulichen Gesprächen. Birgit Haaks, Leiterin der Seemannsmission in Rostock, bestätigt: "Seeleute tragen ihr Herz nicht auf der Zunge."
Kritische Themen vermeiden
Business as usual, also? Im Großen und Ganzen ja, aber es hat sich durchaus etwas verändert. Es ist weniger ein Gefühl der Unsicherheit. "Die Ostsee fühlt sich sicherer an als andere Meere", sagt Monica Döring, Leiterin von "Stella Maris" in Hamburg. Dort sei beispielsweise ein gesicherter Landgang möglich, weil die Anrainerstaaten allesamt Rechtsstaaten sind. "Russland ausgenommen", fügt Döring hinzu. In anderen Seegebieten, wie der Straße von Hormus, dem Horn von Afrika, dem Roten Meer oder dem Schwarzen Meer, gehe es rauer zu.
Matthias Ristau, Geschäftsführer der Deutschen Seemannsmission, erläutert, dass es in erster Linie um das Leben an Bord und das Verhältnis untereinander geht. Zwar sei Politik generell kein Thema, doch es sei nicht ratsam, kritische Themen anzusprechen. Ristau weiß zudem: "Seit dem Ukrainekrieg ist es nicht mehr zu verantworten, dass Russen und Ukrainer zur selben Besatzung gehören." Er rät den Reedereien, dies zu berücksichtigen.
Sorge um sich, Angehörige und Freunde
Auch an Land haben die Standorte der Seemannsmission entlang der Ostsee seit Beginn des Ukrainekrieges "ihre Antennen ausgefahren", wie es Haaks umschreibt. Die Rostocker Leiterin ergänzt: "Wir sind wachsamer für die Thematik." Und: "Wir können einfach nur für die Seeleute da sein." Insofern ist es doch Business as usual – auch dann, wenn Russen und Ukrainer gemeinsam Nachrichten schauen.
Im Kleinen hat sich in Rostock indes doch etwas getan: Am Standort gibt es Bibeln in ukrainischer Sprache. Sollte es notwendig sein, organisieren Haaks und ihr Team mit vier haupt- und sieben ehrenamtlichen Mitarbeitenden zudem einen Seelsorger der ukrainisch-orthodoxen Kirche.
Ristau weiß gleichwohl, dass ukrainische Seeleute psychisch besonders belastet sind. Dies gilt vor allem dann, wenn es um die Verlängerung ihres Seemannsbuches geht. Dafür, so Ristau, müssten die Männer in die Ukraine reisen. Dabei schwinge immer die Angst mit, ob sie wieder aus dem Land herauskommen oder als Soldaten an die Front müssen. Auch die Sorge um Angehörige und Freunde lastet schwer auf den Fahrensleuten. Immerhin, so Ristau, hätten die Arbeitgeber, sprich die Reedereien, dafür gesorgt, dass die Familien die Ukraine verlassen können.
Besatzung sitzt vor Sassnitz fest
Aber nicht nur Ukrainer geraten durch den Krieg in ihrer Heimat in die Mühlen der Weltpolitik. So sitzen an Bord des unter der Flagge Panamas fahrenden Öltankers "Eventin" seit Monaten indische und philippinische Seeleute fest. Hintergrund: Das mit 100.000 Euro Rohöl beladene Schiff wird der russischen Schattenflotte zugerechnet und wurde vom Zoll festgesetzt. Die "Eventin" liegt seit Monaten vor Sassnitz in der Ostsee, ohne dass die Besatzung Landgang bekommt – dies könnte länger dauern, denn inzwischen befassen sich die Gerichte mit der "Eventin".
Um wenigstens nach der Besatzung zu schauen, waren laut einem Bericht der Ostsee-Zeitung (OZ) im März engagierte Menschen an Bord - unter anderem von der Seemannsmission in Sassnitz. "Die Freude und Dankbarkeit der 22-köpfigen internationalen Besatzung nach zwei Monaten der Isolation war riesig", schreibt die OZ. Im Gepäck hatte das Dreierteam T-Shirts der Seemannsmission und SIM-Karten mit Guthaben, damit die Seeleute Kontakt zu ihren Familien aufnehmen konnten, und eine Schokotorte. Im Grunde genommen möchten die Männer nur eines: nach Hause. "An Bord der ‚Eventin‘ sind Menschen. Die Besatzung ist hier unfreiwillig zum Spielball geworden", zitiert die OZ den Sassnitzer Hafenkapitän Ronald Damp. Peter Leukroth, Leiter der Sassnitzer Seemannsmission, sagt demnach: "Gut, dass wir das gemacht haben."