TV-Tipp: "Polizeiruf: Widerfahrnis"

Fernseher vor gelbem Hintergrund
Getty Images/iStockphoto/vicnt
4. Mai, ARD, 20.15 Uhr:
TV-Tipp: "Polizeiruf: Widerfahrnis"
Zwei Frauen stehen nachts rauchend am Waldrand. Offenbar warten sie auf jemanden. Schließlich verabschiedet sich eine und geht Richtung Straße. Von dort erklingt kurz drauf typischer Unfalllärm.

Die andere wendet sich ab; eine Träne rollt über ihre Wange. Am nächsten Morgen ist Doreen Brasch noch vor dem Notarzt am Unfallort und stellt fest, dass das Unfallopfer noch lebt. Für Fahrerflucht ist die Kriminalhauptkommissarin (Claudia Michelsen) vom LKA Magdeburg eigentlich nicht zuständig, aber das Schicksal der unbekannten Frau lässt sie nicht los. Das Smartphone gibt nur scheinbar Aufschluss über deren Identität: Die eigentliche Besitzerin des Telefon ist noch sehr lebendig. 

Berna (Rona Özkan) hat die obdachlose Sarah, von der sie nicht mehr weiß als den Vornamen, bei sich aufgenommen. Die alleinerziehende Mutter arbeitet neben dem Studium als Reinigungskraft. Als Gegenleistung für die Untermiete ist Sarah immer wieder mal für sie eingesprungen. In letzter Zeit, berichtet Berna, habe sie wie befreit gewirkt, fast glücklich. Kurz vor jenem Tag, an dem sie aus dem Leben gerissen wurde, war sie in einem Frisiersalon. Auf einmal glich die zuvor verhärmte Frau einer anderen, jüngeren Version ihrer selbst und sah genauso aus wie auf einem Foto, das sie und ihre Familie in einer längst vergangenen Vergangenheit zeigt. 

Dank ihrer Hartnäckigkeit kann Brasch nach und nach die Zeit vor dem Unfall rekonstruieren: Beim Putzen in einem noblen Hotel hat Sarah anscheinend einen Geist gesehen; jedenfalls ist sie durch die Begegnung völlig aus der Bahn geworfen worden. Dank der Überwachungskameras findet die Kommissarin rasch heraus, um wen es sich bei dem Gespenst handelt: René Tamm (Stephan Kampwirth) ist ein renommierter Architekt, der jedoch glaubwürdig versichert, dass er die Frau vor der zufälligen Begegnung im Hotel noch nie gesehen hat. Sarah kannte ihn allerdings offenbar sehr wohl, sie ist ihm mit Bernas Auto sogar bis zu seiner Haustür gefolgt. Die Strecke zwischen Tamms Büro und seinem Haus in einem Vorort führt am Unfallort vorbei, aber die Lacksplitter an ihrer Kleidung passen nicht zu seinem roten Sportwagen. Welchen Grund sollte er auch haben, die Frau umzubringen, zumal er sie in stockdunkler Nacht auf der Landstraße ohnehin nicht erkennen konnte?

Die völlige Rätselhaftigkeit dieses Falls macht den zwanzigsten "Polizeiruf" aus Magdeburg zu einem hochinteressanten Krimidrama. Sarah ist nicht mehr als "ein Vorname ohne Fußabdruck", wie es Brasch formuliert: "Wenn sie jetzt stirbt, ist es, als hätte es sie nie gegeben." Ihre vielen Versuche, Licht ins Dunkel dieses Daseins zu bringen, scheitern, zumal Sarah in den Rückblenden lange Zeit buchstäblich keinen Ton von sich gibt.

Zora Holtfreter (hier zusammen mit Lucas Thiem) hat einige ausgezeichnete Drehbücher zur ZDF-Reihe "Unter anderen Umständen" geschrieben. Von ihr stammte auch die Vorlage zu "Black Box" (2022, ebenfalls aus Magdeburg), einem ungemein geschickt konstruierten Krimi über die Manipulierbarkeit des Gedächtnisses. Um Erinnerungen geht es auch in "Widerfahrnis". Der selten gebräuchliche Begriff beschreibt die Schicksalhaftigkeit der Ereignisse: Sarah, die nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus mit geringen Überlebenschancen im Koma liegt, ist einst ein furchtbares Ungemach widerfahren. Dessen ganze Tragweite offenbart der Film erst im Epilog, der zudem mit einer überaus grimmigen Pointe endet. 

Der österreichische Regisseur Umut Dağ hat zuletzt unter anderem fürs ZDF die vor allem emotional fesselnde Drama-Serie "Am Anschlag – Die Macht der Kränkung" (2021) über die Vorgeschichte eines Amoklaufs und zuvor für den Hessischen Rundfunk einen ausgezeichneten "Tatort" gedreht ("Das Monster von Kassel", 2019). Mehr als sehenswert war auch "Das deutsche Kind" (2017, ARD), ein Drama über den Sorgerechtsstreit zwischen einem muslimischen Ehepaar und den deutschen Großeltern eines verwaisten Mädchens. Sein "Polizeiruf"-Debüt lebt neben der Handlung und der oftmals raffinierten Kombination der verschiedenen Zeitebenen nicht zuletzt vom Ensemble. Stephan Kampwirth ist ohnehin eine erstklassige Besetzung für Männer mit Geheimnissen und Abgründen; Dağs Lebensgefährtin Martin Ebm spielt die Frau des Architekten. Sehr intensiv ist auch die Leistung von Bühnenschauspielerin Mareike Sedl; zu ihren seltenen TV-Auftritten gehörte unter anderem "Am Anschlag". Rona Özkan nutzt als Berna wie schon in einer Episode der ARD-Reihe "Die Füchsin" ("Alte Sünden", 2022) erneut die Gelegenheit, um Werbung in eigener Sache für eine Besetzung als Hauptdarstellerin zu machen.