TV-Tipp: "Die zweite Welle"

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27. Dezember, ZDF, 22:15 Uhr
TV-Tipp: "Die zweite Welle"
Irgendwann klingelt es, und die Vergangenheit steht vor der Tür: versehrt an Leib und Seele, aber voller Zorn. Filme und Serien handeln gern von solchen Geschichten, in der Wirklichkeit gibt es sie ebenfalls: Menschen haben einst eine große Schuld auf sich geladen, doch je mehr Zeit vergeht, desto sicherer fühlen sie sich. Deshalb ist der Schock umso größer, wenn sie schließlich erkennen müssen: Egal, wie tief man das Vergangene vergräbt, irgendwann kehrt es zurück. 

Das dramaturgische Konzept der Serie erinnert stark an das vor gut einem Jahr ausgestrahlte gleichfalls sechsteilige ZDF-Drama "Liberame – Nach dem Sturm". Hier wie dort geht es um eine miteinander befreundete Gruppe, die im gemeinsamen Urlaub eine folgenschwere Entscheidung getroffen hat und geraume Zeit später dafür gerade stehen muss. In beiden Geschichten spielt Wasser eine wichtige Rolle. In "Liberame" waren es Flüchtlinge, die im Mittelmeer nach einer Abstimmung innerhalb der deutschen Gruppe ihrem Schicksal überlassen wurden. In "Die zweite Welle" nimmt das Leben der Beteiligten eine drastische Wende, als an Weihnachten 2004 ein Beben im Indischen Ozean einen verheerenden Tsunami auslöst. 

Jede der sechs Episoden beginnt mit der Katastrophe, die buchstäblich wie eine Naturgewalt über das Leben der teils befreundeten, teils miteinander verwandten Männer und Frauen aus dem Raum Köln/Bonn hereinbricht: Endlich hat Julia (Luise Bähr) nach jahrelanger Suche ihre jüngere Schwester in Thailand entdeckt, doch die Wiedersehensfreude währt nur kurz, und das nicht allein, weil Alexandra (Karoline Schuch) nichts mit ihr und erst recht nichts mit ihren arroganten Freunden zu tun haben will; der Tsunami ändert alles.

Die zweite Folge offenbart, was bereits zu erahnen war: Von Julia fehlt jede Spur, weshalb sich ihr Mann Harry (Johann von Bülow) umso inniger an die kleine Tochter klammert; doch das Mädchen ist nicht Noa, sondern Lucy, die ungefähr gleichaltrige Tochter der schwer verletzten Alexandra. In der sicheren Überzeugung, dass sie ohnehin nicht überleben werde, lässt die Gruppe Harrys Schwägerin zurück. 

Die Konfrontation mit dieser Frau, die durch den Tsunami ein halbes Bein verloren und wegen Drogenhandels viele Jahre in einem thailändischen Gefängnis verbracht hat, löst Jahre später die titelgebende zweite Welle aus. Als Alexandra an einem unverwechselbaren Muttermal erkennt, wer Noa wirklich ist, will sie den Beteiligten die Maske vom Gesicht reißen, damit das Mädchen sieht, welche Abgründe sich hinter den bürgerlichen Fassaden verbergen; und beinahe zwangsläufig entpuppt sie sich dabei selbst als Monster. Noa wiederum wird mehr und mehr zum emotionalen Epizentrum der Geschichte, zumal sich ihr bisheriges Leben plötzlich als Lüge entpuppt. Meira Durand war bereits mit neun Jahren Hauptdarstellerin des Kinderfilms "Hier kommt Lola" (2010) und erweist sich erneut als Ausnahmetalent. 

Sechsteilige Serien sind mitunter eine Folge zu lang; diese jedoch nicht, im Gegenteil. Die Handlung ist so vielschichtig und komplex, dass Sarah Schnier einige Nebenebenen bloß beiläufig abhandelt. Die Autorin war bis hin zum Schnitt an der Produktion beteiligt, ihr Anteil an der herausragenden Qualität ist also mindestens so hoch wie der von Friederike Heß. Die Kamerafrau hat hier erstmals auch Regie geführt (zweiter Regisseur war André Erkau, beide werden im Vorspann gleichwertig genannt). Ihrem Einsatz sind unter anderem die spektakulären Tsunami-Bilder zu verdanken. Die entsprechenden Szenen wirken gerade für eine TV-Produktion sehr aufwändig und zudem authentisch; die Aufnahmen der von Leichen übersäten Strände sind äußerst bedrückend. 

Zu einer besonderen Produktion wird "Die zweite Welle" jedoch durch die ausnahmslos ausgezeichneten darstellerischen Leistungen. Angesichts von acht nahezu gleichwertigen Figuren (unter anderem Tim Bergmann, Özgür Karadeniz und Ursula Strauss) war es umso wichtiger, die Rollen nicht nur jede für sich, sondern auch als stimmiges Ensemble zu besetzen, zumal gerade die Gruppenszenen von großer Bedeutung sind: Weil die betrogene und beraubte Mutter in ihrem heiligen Zorn die Existenzen aller Beteiligten vernichten will, sorgt sie dafür, dass weitere sorgsam kaschierte Geheimnisse ans Licht kommen. Trotzdem verzichtet das Drehbuch auf schlichte Schwarzweißmalerei: Keine Figur ist nur gut oder nur schlecht. "Meine Freunde und ich", sagt Harry zu Beginn, "sind keine bösartigen Menschen. Aber wir haben Böses getan."