TV-Tipp: "Am Ende – Die Macht der Kränkung"

© Getty Images/iStockphoto/vicnt
24. Mai, ZDFneo, 21:45 Uhr
TV-Tipp: "Am Ende – Die Macht der Kränkung"
Niemand sei eine Insel, heißt es. Ein anderes Bild verdeutlicht jedoch viel besser, welchen Einfluss alles, was ein Mensch tut, sagt oder nicht sagt, auf die Personen in seiner Umgebung hat: Jede Handlung, jeder Satz hat Folgen, die sich wie eine Welle fortsetzen; und davon erzählt die sechsteilige Serie "Am Ende – Die Macht der Kränkung".

Der Titel erinnert nicht ohne Grund an die ganz ähnliche konzipierte und gleichfalls gemeinsam von ZDF und ORF produzierte Serie "Am Anschlag – Die Macht der Kränkung" (2021). Dort war das zentrale Ereignis ein Amoklauf in einem Wiener Einkaufszentrum; Rückblenden erzählten im Stil eines Countdowns jeweils einen Tag aus dem Leben von fünf beteiligten Menschen.

"Am Ende" konzentriert sich auf die Mitglieder einer Familie. Der Anlass ihrer Begegnung ist längst nicht so spektakulär, aber aus Sicht der Betroffenen ähnlich tragisch: David (Golo Euler) ist mitten aus dem Leben gerissen worden. 
Agnes Pluch, die auch die Drehbücher zu "Am Anschlag" geschrieben hat, sowie ihre Koautorinnen Marie-Therese Thill und Rebekka Reuber nutzen die Bestattung als Rahmen, um Davids Geschichte zu erzählen. Strukturell sind die Parallelen zu "Am Anschlag" offenkundig: Auch hier konzentriert sich jede der weiteren Folgen auf eine Person aus Davids Umfeld, auch hier geht es um erlittene Kränkungen, die tiefe Verletzungen hinterlassen haben; die Zeit heilt nicht alle Wunden. Tatsächlich erinnert "Am Ende" jedoch viel eher an "Gestern waren wir noch Kinder" (2022, ZDF). Dort war zwar ein Mord der Handlungsauslöser, aber familiäre Geheimnisse spielen in beiden Serien eine entscheidende Rolle. 

Und es gibt noch eine Übereinstimmung. Die eingangs beschriebenen Wellen setzen sich nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit fort: Mitunter vergehen Jahrzehnte, ehe der durch ein Beben ausgelöste Tsunami in der Gegenwart ankommt. Deshalb trägt sich ein großer Teil der Rückblenden in Davids Jugend in den Neunzigern zu. Damals wurden die Weichen für sein späteres Leben gestellt: Der Vater, ein erfolgreicher Unternehmer, der sich aus kleinen Verhältnissen empor gearbeitet hat, will den jungen Mann (Philip Froissant) zu seinem Nachfolger aufbauen, aber David möchte Architekt werden.

Schließlich landet er doch in der Firma; "Am Ende" erzählt auch von geplatzten Träumen und Kompromissen. Und von Lebenslügen: Ausgerechnet Davids Sohn Leon (Léon Orlandianyi), dem die letzte Episode gewidmet ist, bleibt der Beerdigung fern. Er ist, wie sich schließlich rausstellt, der Adressat eines Monologs, mit dem die erste Folge beginnt. Darin spricht David über seine Angst, den Jungen zu verlieren, die ihn durch sein gesamtes Leben als Familienvater begleitet hat. Woher diese Angst rührt, wird erst gegen Ende beantwortet, und es empfiehlt sich tatsächlich, nun noch mal den Auftakt anzuschauen, denn der Schluss lässt die Ereignisse vom Anfang in einem völlig anderen Licht erscheinen. 

Ein weiterer Monolog ist ein von seiner Ärztin verlesener Brief Davids an die Hinterbliebenen. Der Abschied entspricht einer Abrechnung und sorgt dafür, dass bei der anschließenden Trauerfeier einige viele Jahre unter den familiären Teppich gekehrte Wahrheiten ans Licht kommen. Die weiteren Folgen rücken die wichtigsten Betroffenen ins Zentrum: Davids kleine Schwester Mirjam (Antonia Bill), seinen besten Freund Roko (Mohamed Achour), seine Frau Julia (Angelina Häntsch). Jugendfreund Sascha (Michael Pink), der einst ebenfalls maßgeblichen Einfluss auf Davids Leben nahm, hat keine eigene Episode erhalten, prägt dafür jedoch die Auftaktfolge. Eine Schlüsselfigur ist wie in allen Geschichten dieser Art die Mutter: Rosa, in der Gegenwart von Barbara Auer und in den Rückblenden von Henriette Richter-Röhl verkörpert, führt hinter der makellosen Fassade seit Jahren einen Kleinkrieg gegen ihren egozentrischen Gatten (Thomas Thieme/Shenja Lacher), hat sich aber seinem antiquierten patriarchalischen Lebensmodell untergeordnet. 

Neben der Verflechtung von Heute, Gestern und Vorgestern sowie der Faszination des nach und nach wie ein Puzzle aus verschiedenen Schlüsselereignissen entstehenden Lebensbildes liegt ein besonderer Reiz der auch binnendramaturgisch sehr durchdachten Reihe in der Besetzung: Die unbekannten jugendlichen Pendants der erfahrenen Mitwirkenden sind klug ausgewählt und machen ihre Sache prima. Gewisse Schwächen gibt es allerdings bei der darstellerischen Führung in den emotionalen Szenen; das Leben besteht nicht aus Nahaufnahmen, weshalb Trauer und Wut mitunter überspielt wirken. Viele andere Momente sind dagegen von eindrucksvoller Intensität. Ohnehin beweist Daniel Prochaska wie schon beim ORF-Beitrag zum Fußballserienprojekt "Das Netz" ("Prometheus", 2022) oder zuvor in der famos gespielten seriellen Ferdinand-von-Schirach-Adaption "Glauben" (2021), wie stets in Zusammenarbeit mit Kameramann Matthias Pötsch, erneut sein außerordentliches Regietalent. Die ersten drei Episoden stehen in der ZDF-Mediathek; Neo zeigt heute die Folgen vier bis sechs.