Hildesheim (epd). Jugendliche ziehen seit den 1970er-Jahren immer später aus ihrem Elternhaus aus. 2020 lebten mit 28 Prozent mehr als ein Viertel der 25-Jährigen noch im Elternhaus, 21 Prozent seien Töchter, 35 Prozent Söhne, sagte Professorin Meike Baader von der Universität Hildesheim im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Die Pandemie hat diese Tendenz verstärkt.“ Junge Menschen hätten ihr zu Hause gar nicht erst verlassen oder seien zurück zu ihren Eltern gezogen. „Diese Entwicklung könnte sich durch die gestiegenen Miet- und Lebenshaltungskosten verstärken“, sagte die Erziehungswissenschaftlerin.
Das Verhältnis zwischen Eltern und Jugendlichen sei heute in der Regel tolerant und partnerschaftlich, erläuterte Baader. Das „Einschränkungsgefühl“, das bei früheren Generationen dazu geführt habe, sich möglichst schnell ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen, hätten heute viele Jugendliche nicht mehr. „Warum ausziehen, wenn man sich wohlfühlt und 'Hotel Mama' dann auch noch für Wäsche und einen vollen Kühlschrank sorgt?“
Die Shell-Jugend-Studien der vergangenen Jahrzehnte zeigten, dass Jugendliche pragmatisch denken. „Sie orientieren sich an dem, was ihnen nützt“, sagte sie. „Für viele ist es also folgerichtig, erst einmal zu Hause zu bleiben.“ Das gelte insbesondere für Jungen. Töchter zögen im Schnitt mit 23 Jahren aus, Söhne mit knapp 25 Jahren. „Mit 30 Jahren leben immer noch 13 Prozent aller Söhne als Ledige im Elternhaus, aber nur sechs Prozent der Töchter.“
Die Erziehungswissenschaftlerin führt diesen Unterschied auch darauf zurück, dass Jungen nach wie vor weniger im Haushalt mithelfen müssten als Mädchen und insofern auch unselbstständiger seien, einen eigenen Haushalt zu führen. „In der gesellschaftlichen Wahrnehmung sind Haushalt und Care-Arbeit gleichberechtigter aufgeteilt, als es in der Realität der Fall ist - das wissen wir aus vielen Studien und das hat auch Corona wieder gezeigt.“
Nach Baaders Meinung hängt die späte Nestflucht auch damit zusammen, dass die Frage „Wann ist man erwachsen?“ heute nicht mehr eindeutig beantworten werden kann. Bis in die 70er Jahre sei klar gewesen: Erwachsen ist, wer erwerbstätig ist und eine eigene Familie hat. Heute habe sich der Lebenslauf entstrukturiert. „Die Jugendzeit ist deutlich länger geworden.“
Die Erziehungswissenschaftlerin betonte, dass nicht nur Jugendliche von ihrem längeren Aufenthalt zu Hause profitieren, sondern auch die Eltern. „Durch das Zusammenleben sind sie eng an den Themen der Jugendlichen und partizipieren so von der Jugendlichkeit ihrer Kinder.“
Daran änderten auch kontroverse Themen wie der Klimawandel nichts. „Natürlich gibt es Kritik an der älteren Generation, Vorwürfe, sie hätte mit ihrer Lebensweise den Planeten zerstört“, sagte Baader. Doch, dass Jugendliche sich an ihren Eltern bei diesen Themen so richtig abarbeiteten, wie man das von früheren Generationskonflikten kennt, sehe sie nicht.