Protestforscher: Autobahnblockierer sind keine Extremisten

Protestforscher: Autobahnblockierer sind keine Extremisten

Berlin (epd). Nach Auffassung des Berliner Protestforschers Dieter Rucht schätzen die Aktivistinnen und Aktivisten der Initiative „Letzte Generation“ ihre öffentliche Wirkung falsch ein. „Ihre mediale Wirkung ist großartig und sie freuen sich darüber, aber das ist ja nicht das Einzige“, sagte Rucht am Mittwoch in Berlin dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Er glaube, dass die Aktivistinnen und Aktivisten die Wirkung ihrer Aktionen „verschätzen“. Insgesamt müsse auf Grund der gespaltenen öffentlichen und politischen Wahrnehmung der Aktionen auch mit viel Ablehnung gerechnet werden. Unter dem Slogan „Essen retten - Leben retten“ blockieren die Klimaaktivistinnen und -aktivisten seit Wochen in Berlin und anderen Städten immer wieder Autobahnen und Hauptverkehrsadern.

Er verstehe, warum ihr Protest nicht mehr nur „nett und freundlich“ sei: „Ich kann nachvollziehen, dass die Aktivistinnen und Aktivisten unzufrieden sind mit dem, was die Politik bislang gemacht und vorgeschlagen hat“, sagte Rucht. Die Demonstrierenden hätten eine drastische Wahrnehmung der herrschenden Probleme, weshalb sie den Einsatz von sehr weitgehenden Mitteln des Protests als gerechtfertigt erachteten. Jedoch wolle oder suche die Initiative keine Eskalation.

Auch deshalb sei die „Letzte Generation“ nicht extremistisch, sagte Rucht. „Ich halte von dem Begriff generell eher Abstand, gebrauche lieber den Begriff Radikalismus.“ Ob eine Gruppe als radikal verstanden werde, hänge jedoch vom individuellen Standpunkt ab. „Wenn man gesetzestreu und brav ist, dann ist auch schon eine kleine Überschreitung, zum Beispiel eine Sitzblockade oder das Beschmieren einer Wand, radikal.“ Andere bezeichneten eben diese Aktionen jedoch als harmlos: „Sie würden sagen, dass diese Aktionen einfach zur politischen Auseinandersetzung gehören oder eine Begleiterscheinung dieser Auseinandersetzung sind.“

Mit ihrem bedingungslosen Handeln wolle die Initiative nicht zuletzt auch andere überzeugen, ergänzte der Forscher. „Die Aktivistinnen und Aktivisten schaffen so etwas wie eine moralische Klarheit für sich, wollen aber auch, dass nach Außen hin dokumentiert wird: Schaut her, im Gegensatz zu euch kümmern wir uns um die Probleme.“ Um dies zu erreichen, gingen sie ein hohes Risiko ein und seien bereit, drohende Sanktionen wie Geld- oder Gefängnisstrafen hinzunehmen.

Mit Blick auf die Aktionen der vergangenen Wochen rechnet der emeritierte Soziologieprofessor der Freien Universität Berlin und vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung damit, dass die Initiative neue Formen des Protests wählt: „Ich glaube, sie werden mit Aktionen weitermachen, bei denen sie umstehende Passanten nicht gegen sich aufbringen.“ Eher richteten sich zukünftige Aktionen möglicherweise direkt an politisch Verantwortliche.